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Gemuender Blut

Gemuender Blut

Titel: Gemuender Blut
Autoren: Elke Pistor
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Rostlers Küche. Sie musste es unter den Falten ihrer Bluse versteckt haben.
    »Du störst mich.« Sie richtete das Messer auf mich.
    »Michelle, nicht!« Olaf. Heiser und schwach. Aber seine Worte schienen zu ihr durchzudringen. Sie sah ihn an.
    »Sie ist meine Schwester!«
    »Sie nimmt dich mir weg, Olaf! Das wollte sie von Anfang an! Sie und dein Vater. Sie hassen mich.«
    Ich fürchtete, sie könnte meinen Herzschlag hören, und senkte meine Stimme. »Wir haben dich willkommen geheißen, Michelle.«
    »Der Alte hat gesagt, ich solle weggehen. Er kannte meinen alten Namen und wollte mich verjagen aus seinem Haus und aus Gemünd. Aber ich bin nicht mehr Maria!« Ihre Hand mit der Waffe zitterte, aber sie hielt sie unverwandt auf mich gerichtet. »Ich bin Michelle!« Sie richtete sich auf und schob ihr Kinn vor. »Das hat er jetzt davon. Brabbelt nur noch vor sich hin. Hirnloses Gesabbel. Wie vorher. Kein Unterschied.«
    Ihre Stimme wurde immer leiser, so als ob sie nur noch zu sich selbst sprechen würde. Dann begann sie mit der freien Hand an ihrem Unterarm zu kratzen. Ihre langen Nägel rissen Schrammen in die dünne Haut, die, ich erkannte es jetzt, von Narben übersät war. Blutstropfen quollen hervor, als sie alte und neue Wunden aufriss. Ihr Blick klärte sich wieder, und als sie sprach, war nichts als kalte Berechnung zu hören.
    »Ich musste nur ein wenig nachhelfen, und ihr habt es noch nicht einmal bemerkt.«
    »Du hast die Leiter angesägt«, murmelte ich und ließ die Messerspitze nicht aus den Augen.
    »Richtig! Die Kommissarin hat hundert Punkte!« Michelle lachte. »Was weißt du noch?«
    Ich schwieg. Wenn ich ihr jetzt erzählte, was ich wusste, käme das einem Todesurteil gleich.
    »Oh, doch nicht so clever, was?« Sie schüttelte den Kopf. »Tsstss, die arme, einsame Frau Rostler. Sie redete so gerne. Mit dir. Über mich. Über Maria. Man sollte die Alten nicht unterschätzen. Nicht ihre Neugierde und nicht ihre Erinnerung. Ich hab sie reden lassen. In den Kuchen hatte ich so viel von dem Glucagon meines Vaters hineingepackt, sie hatte eh keine Chance.« Sie wechselte die Hand und kratzte sich am anderen Arm. »Überzuckerung, Ohnmacht, Koma, Ende. Freundlicherweise ist sie auch noch die Treppe hinuntergefallen und verblutet. Wie praktisch für mich.«
    Sie legte den Kopf schief und blinzelte mich an. »Man darf nicht zu zimperlich sein, was, Ina?«
    Unvermittelt trat sie auf mich zu, hob die Hand mit dem Messer und schlug zu. Ich hörte noch Olafs Aufschrei. Dann hörte ich nichts mehr.
    Es war kalt. Die Nebel in meinem Kopf verflüchtigten sich. Zurück blieb ein dumpfer Schmerz. Dort, wo der Griff des Messers mich an der Schläfe getroffen hatte, pochte es. Meine Hände waren taub und angeschwollen. Die dünnen Kabelbinder um meine Handgelenke schnitten tief ins Fleisch und ließen mir, ebenso wie an den Füßen, keine Bewegungsfreiheit. Ich musste sie loswerden, und zwar schnell. Sie hatte mich in die Vorratskammer gesperrt.
    An den Wänden zogen sich Regale mit Marmeladengläsern, eingelegten Früchten und Konservendosen entlang. Glas. Damit konnte ich meine Fesseln durchschneiden. Ich robbte zu dem Regal und trat mit den Füßen dagegen. Es krachte, und hektisch riss ich meine gefesselten Hände hoch, um mich gegen die herumfliegenden Scherben zu schützen. Ich presste die Lippen zusammen, unterdrückte das Atmen und lauschte angestrengt auf Michelles Schritte. Sie musste das Getöse gehört haben. Aber es blieb still.
    Auch von Olaf hörte ich nichts. Hatte sie ihn wieder geknebelt? Ich hoffte, dass es nichts Schlimmeres bedeutete.
    Ein halbes Einmachglas lag in meiner Nähe. Ich ließ mich zur Seite fallen und packte die große Scherbe vorsichtig mit den Zähnen. Die Kante war scharf, und ich hatte Mühe, mir nicht die Lippen und die Zunge zu zerschneiden, aber schließlich lösten sich die Plastikbänder von meinen Handgelenken.
    Der Schmerz biss zu, als das Blut plötzlich wieder durch die Adern strömte. Erst als das Kribbeln langsam verebbte, konnte ich die Binder an meinen Fesseln lösen. Jegliches Zeitgefühl war mir abhandengekommen. Das Fenster im Kellerschacht war dunkel. Also musste es noch Nacht sein. Woher kam dann das schwache Licht in meinem Verlies?
    Durch einen dicken Spalt unter der Tür drang Helligkeit. Michelle hatte im Kellerflur die Lampe angemacht. Ich stand auf und drückte die Klinke hinunter. Verschlossen. Aber die Türangeln lagen auf der Innenseite des Raumes.
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