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Gemuender Blut

Gemuender Blut

Titel: Gemuender Blut
Autoren: Elke Pistor
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plötzlich schwieg. Meine Beine wurden weich. Ich klammerte mich an den kalten Kunststoffrahmen der Terrassentür. Gedanken jagten durch meinen Kopf. Ich musste ihm helfen. So oder so. Er war mein Bruder. Ich liebte ihn. Ich durfte ihn nicht im Stich lassen.
    Geduckt schlich ich über den Rasen. An den Halmen hing die Feuchtigkeit der Nacht. Ich spürte, wie die Nässe meine Sandalen durchweichte. Der Geruch von nassem Leder stieg in meine Nase, und ich musste an die vielen Cowboy- und Indianerabenteuer denken, die Olaf und ich miteinander erlebt hatten. Ich ließ mich von meinem kleinen Bruder an den Marterpfahl fesseln, immer in dem Vertrauen, dass er mich auch wieder befreien würde. Vertrauen.
    Konnte ich ihm jetzt vertrauen? Dies war kein Spiel. Wenn ich in Frau Rostlers Haus eindrang, wie viele Gegner warteten dort auf mich? An der Grenzhecke stoppte ich, bog die harten Zweige auseinander und zwängte mich hindurch.
    Drei Schritte und ich stand auf den Stufen, die zum Kellereingang hinunterführten. Die Holztür war nur angelehnt. Michelle und Olaf mussten denselben Weg gegangen sein. Das Polizeisiegel war aufgebrochen, am Metallschloss glänzten Kratzspuren.
    Die Räume hinter der Tür lagen im Dunkeln, und es dauerte einige Sekunden, bis meine Augen sich darauf eingestellt hatten und ich die Umrisse erkennen konnte. Ein Rasenmäher stand mitten im Raum. Spaten, Harken und andere Gartenutensilien hingen ordentlich aufgereiht an den Wänden.
    Ich stolperte über einen Blecheimer, der mit Getöse umfiel und krachend über den Betonboden rollte. Ich erstarrte in der Bewegung. Jetzt wusste Michelle, dass jemand im Haus war. Das würde sie nicht freundlich stimmen. Ich war unbewaffnet.
    Hastig suchte ich nach etwas, das mir zur Verteidigung dienen konnte. Meine Hände fühlten kaltes Metall. Rund. Klein. Handlich. Eine Spraydose. Die Aufschrift war im Dämmerlicht nicht zu lesen. Egal. Sie war groß genug, um damit zuzuschlagen. Ich schüttelte sie. Und voll genug, um ihr eine Ladung damit ins Gesicht zu verpassen. Wie einen Knüppel umklammerte ich die Dose und schlich durch den Kellerflur.
    Ein Stöhnen war zu hören. Dann wieder Stille. Ich fuhr herum. Wo kam es her? Wieder ein Laut. Es klang wie das Scharren von Absätzen. Langsam folgte ich den Geräuschen. Ein weiterer Kellerraum. Durch das hoch gelegene Fenster fiel das dumpfe Licht einer Sommernacht. Unter dem Fenster lag Olaf. Mit Kabelbinder an Händen und Füßen gefesselt und mit alten Lumpen geknebelt. Die Augen weit aufgerissen, starrte er mich an und wand sich hin und her.
    Mit ein paar Schritten war ich bei ihm. Stellte die Spraydose ab und zerrte ihm den Stofffetzen aus dem Mund. Schnappend rang er nach Luft. Meine Finger zerrten und zogen an den Plastikfesseln. Ohne Erfolg.
    »Was ist passiert?«, fragte ich ihn.
    »Sie hat versucht mich …«, krächzte Olaf mit wunder Stimme.
    »Was hab ich dich, mein Schatz?«
    Ich schnellte herum. Michelle stand im Türrahmen, ein freundliches Lächeln auf den Lippen. Sie stützte eine Hand in die Taille und kam mit wiegenden Hüften auf uns zu.
    »Hallo, Ina.« Wieder dieses Lächeln. Ihre Zähne blitzten und strahlten, aber ihre Augen blieben ohne jede Regung.
    »Hallo, Maria.«
    »Schau mal, ich habe die neue Bluse an, Schatz.« Sie glitt mit den Händen über ihre Brüste und ihren Bauch. Der dünne Stoff spannte sich. Wie ein Pin-up-Girl rekelte sie sich vor Olaf. »Gefällt sie dir?« Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse. »Gefall ich dir?«
    Olaf starrte sie an. Die Ader an seinem Hals pochte, und ich sah, wie er mühsam schluckte. Aber er blieb stumm.
    »Die Bluse steht dir sehr gut, Maria«, sagte ich leise und ging einen Schritt auf die Stelle zu, an der meine Spraydose auf dem Boden stand.
    »Dich hab ich nicht gefragt, Ina!«, zischte sie, und ihre schönen Züge verzerrten sich. »Du bist nicht wichtig.«
    Sie trippelte zu Olaf, ließ sich auf die Knie sinken und schlich wie eine Katze auf ihn zu. »Mein Liebster. Sag doch, wie schön du mich findest!«
    Olaf biss sich auf die Lippen. Auf seiner Stirn erschienen Schweißtropfen. Er versuchte zu sprechen, aber nur ein heiseres Räuspern kam aus seiner Kehle.
    Ich hatte die Spraydose fast erreicht und streckte vorsichtig meine Finger danach aus. Sie fiel um. Das Geräusch war leise, aber ohrenbetäubend.
    Michelle sprang auf und hielt plötzlich ein Messer in der Hand. Ich erkannte die Waffe wieder. Das große Fleischermesser aus Frau
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