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Gemuender Blut

Gemuender Blut

Titel: Gemuender Blut
Autoren: Elke Pistor
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lauschte hinein.
    »Schlaft ihr noch, ihr Süßen?«, zirpte sie, kramte in ihrer Handtasche und zog das Messer heraus. »Ich hab der Ina etwas Feines mitgebracht, damit sie uns nicht mehr stören kann, mein Schatz.«
    Jeder ihrer Schritte knarzte auf den Holzbrettern, als sie Stufe für Stufe in den Keller hinunterstieg. Im Vorbeihasten zog ich einen Spazierstock aus dem Schirmständer und eilte hinter ihr her.
    Sie vermutete mich noch zwischen den Einmachgläsern, also hatte ich das Überraschungsmoment für mich. Als sie zu Olaf ging und vor ihm niederkniete, sprang ich die letzten beiden Stufen hinunter und hob den Stock.
    Im selben Moment flog im Erdgeschoss die Haustür mit einem lauten Knall auf. Michelle fuhr herum, Panik in den Augen. Sie erkannte mich, blickte an mir vorbei zur Treppe. Rufe hallten durchs Haus.
    »Ina!« Michelles Stimme wurde weich, und ihre Augen veränderten sich. Sie lächelte. Dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Ich hab es dir doch gesagt.« Ein kleines Mädchen saß dort und schaute erwartungsvoll zu mir empor. »Ich werde Olaf nicht gehen lassen. Er gehört mir.«
    Sie senkte den Kopf und streichelte Olafs Wange. Mein Bruder stöhnte wieder und versuchte sich wegzudrehen. Seine Augen waren geöffnet. Ich sah die Angst darin.
    »Ich werde nie wieder jemanden gehen lassen. Er gehört mir. Peter wollte auch wieder weggehen. Wollte nicht bei mir bleiben. Dabei bin ich extra zu ihm gekommen. Er wollte mich alleine lassen. Aber«, wieder lächelte sie, »das habe ich ihm nicht erlaubt, diesmal.« Sie packte Olafs Handgelenke und setzte das Messer an. Zwei schnelle Schnitte. Blut sprudelte aus seinen Pulsadern und färbte Michelles Hose rot. »Jetzt schlaf schön, mein Schatz. Es wird dir nicht wehtun.«
    Der Knauf des Spazierstocks traf sie an der Schläfe. Genau an der gleichen Stelle, auf die sie mich vorher geschlagen hatte. Klirrend flog das Messer auf den Boden, rutschte gegen die Tür und blieb dann liegen. Michelle sah mich für einen Moment ruhig an. In ihrem Blick Erstaunen. Sie weinte. Dann kippte sie zur Seite, die Arme über Olaf ausgebreitet, und verlor das Bewusstsein.
    Grobe Hände packten mich und rissen mich zur Seite. Der kleine Kellerraum füllte sich mit Menschen. Polizisten in Uniform, Sanitäter stürzten sich auf Olaf und Michelle. Rufe gellten, hektische Betriebsamkeit breitete sich aus. Ich stand, wie von einer Glaskugel eingeschlossen, daneben, unfähig, etwas zu sagen oder mich zu rühren.
    »Hey, Kommissarin.« Steffen. Ganz nah bei mir. »Es ist vorbei.«
    Sauerbier trat in mein Blickfeld, sah Steffen an und nickte. »Sie kümmern sich, Herr Ettelscheid.«
    Olaf wurde auf einer Trage an mir vorbeigeschoben. Seine Augen waren offen. »Danke«, las ich von seinen Lippen ab, dann trugen sie ihn die Treppe hinauf.
    Michelle war ebenfalls wieder bei Bewusstsein. Mein Schlag hatte sie also nicht ernsthaft verletzt. Erstaunlicherweise war ich darüber erleichtert.
    »Fassen Sie mich nicht an!«, zischte sie dem Beamten ins Gesicht, der sie abführte, und versuchte, seine Hand wie ein lästiges Insekt abzuschütteln. Als sie an mir vorbeikam, lächelte sie und blieb stehen. »Wollen wir morgen etwas zusammen unternehmen, Ina? Das hier ist alles ein großer Irrtum, und sie lassen mich bestimmt schnell wieder frei.«
    »Das glaube ich nicht«, antwortete ich und folgte den Polizisten die Treppe hinauf und aus dem Haus.
    Über den Böttenbachberg schoben sich die ersten Strahlen der Sonne.
    Hinter mir lagen eine schlaflose Nacht, achtundvierzig Jahre, hundertfünfunddreißig Tage und vier Stunden meines Lebens, von denen ich jede einzelne Sekunde in meinen Knochen spürte. Die wenigen stillen Augenblicke, die mir vergönnt gewesen waren, reichten bei Weitem nicht, um die Schmerzen zu vertreiben, die in meinem Kopf tobten. Aber noch konnte ich mir keine Ruhe leisten. Auch wenn Steffen mich unter die heiße Dusche und zum Schlaf gezwungen hatte. Ich musste wissen, wie es Olaf ging. Sie hatten ihn nach Mechernich ins Krankenhaus gebracht. Dorthin wollte ich. Zu meiner Familie.
    Steffen goss einen weiteren Becher Kaffee ein und schob mir eine belegte Brötchenhälfte zu.
    »Iss was.«
    Ich schüttelte den Kopf und sah ihn an.
    »Kannst du mich fahren? Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre, mich selbst hinters Steuer zu setzen.«
    Statt einer Antwort schob er Kaffee und Teller noch ein Stück weiter auf mich zu. »Danach.«
    Ich seufzte und gab mich geschlagen.
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