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Gemuender Blut

Gemuender Blut

Titel: Gemuender Blut
Autoren: Elke Pistor
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die Polizei an und geben Sie ihnen die Adresse meines Vaters durch. Sie sollen sich beeilen!«, instruierte ich Frau Angler und setzte Steffens schweren Geländewagen in Bewegung.
    Alle Lichter in Olafs Wohnung brannten, als ich in einiger Entfernung parkte und auf das Haus zuging. Die Straße war menschenleer. Schon von Weitem sah ich die Haustür. Sie stand einen Spaltbreit offen und ließ den Blick frei auf das hell erleuchtete Treppenhaus dahinter. Kam ich zu spät? Ich lauschte. Nichts war zu hören. Keine Stimmen. Kein Geschrei. Stille. Und durch die Stille kroch die Angst. Sie kam auf mich zu. Ließ mir keinen Ausweg.
    Die Gedanken wirbelten wild durcheinander, raubten mir jede Möglichkeit, mich zu bewegen, mich zu entscheiden. Ich stand wieder auf dem Dach des Doms. Weit unter mir der Boden. Weit. Weit. Weit. In mir schlug eine Trommel einen schnellen Takt. Ich spürte sie mit meinem Gehör. Lauschte und ertastete sie. Schwankte. Mit offenen Augen blind. Meine Finger suchten nach einem Halt, packten zu, umklammerten, krallten sich fest.
    Schmerz fraß sich in meine Hand, stoppte den Gedankensturm und zwang meine Aufmerksamkeit aus dem Gefängnis der Angst in die Wirklichkeit zurück. Ein Rosenstock, unter Frau Rostlers Obhut zu einem kräftigen Stamm herangewachsen, hatte mir seine Dornen in die Handfläche gebohrt. Olaf. Michelle. Maria. Ich war hier. An keinem anderen Platz. Hier. Jetzt. Hier. Jetzt. Atmen. Jetzt. Ich schaffe es. Einen Schritt nach dem anderen.
    Langsam betrat ich den Hausflur. Auch die Wohnungstür war nicht verschlossen. Sie knarrte, als ich sie aufschob und eintrat. Der Fernseher lief ohne Ton. Die Bilder warfen flackernde Lichter auf die Wand hinter dem Sofa. Die Tür zum Garten stand offen.
    Eine Teekanne auf dem Tisch, zwei Tassen. Eine der Tassen war umgestürzt. Die Flüssigkeit lief in kleinen Bächen über die Glasoberfläche des Tisches. Der Tee in der anderen Tasse war noch warm. Eine Kerze auf der Anrichte leckte mit müden Flammen am Rest ihres Dochtes.
    Ich legte meine Hand auf die Kuhle des Sitzpolsters von Olafs Stammplatz, um einen Hauch der hinterlassenen Wärme zu fühlen. Sie konnten noch nicht lange fort sein. Olafs Auto stand vor der Einfahrt. Michelles Wagen hatte ich nicht gesehen. Aber wenn sie in Richtung Gemünd gefahren wären, hätten sie mir begegnen müssen. Die Küche war ebenso leer und verlassen wie das Badezimmer, das Gästezimmer so, wie ich es in Erinnerung hatte.
    Die Tür zu Olafs Schlafzimmer stand weit offen. Eine Reisetasche aus schwarzem Leder lag auf einer Kommode neben dem Fenster. Ich kannte sie nicht. Es musste Michelles sein. Hastig wühlten sich meine Finger durch die Wäschestücke und wurden fündig. Ein Blisterpack Tolain. Unangetastet.
    Jetzt schaute ich genauer hin. Ganz unten, verdeckt von T-Shirts und Pullovern, lag eine Aktenmappe. Sie war verschlossen. Ich zerrte und drückte daran herum, ohne Erfolg. Mein Blick fiel auf eine Nagelschere, und ich zögerte nicht lange. Das Lederband gab jeden Widerstand auf, und ein Stapel Papiere flatterte auf den Boden. Zeitungsausschnitte, Artikel, Berichte, Fotos. Peter Prutschik. Immer und immer wieder.
    Das Papier einiger Ausschnitte war im Laufe der Jahre dünn und brüchig geworden. Die ältesten Texte trugen Daten von vor zwanzig Jahren, als Prutschik noch mit seiner Frau und seinem Sohn hier in Gemünd gewohnt hatte. Leserbriefe, die Prutschik geschrieben hatte. Private Bilder – von Sohn und Frau nur noch die Umrisse. Den Rest herausgeschnitten. Todesanzeigen. »Irene Henk, geliebte Ehefrau, Schwiegertochter und Schwägerin« – mit Lippenstift ein Kreuz quer über die Buchstaben gezogen.
    Ich schnappte nach Luft. Wem war ich hier auf der Spur? Was hatte diese Frau getan? Wo blieb Sauerbier? Verdammt! Ich erhob mich, um Olafs Telefon zu suchen, fand es aber nicht. Ratlos stand ich im Wohnzimmer und sah mich um. Zweimal glitt mein Blick daran vorbei, bis es mir auffiel: In Frau Rostlers Haus bewegte sich ein Lichtschein, wie von einer Taschenlampe. Schatten von Körpern glitten über die Gardinen, führten ein gespenstisches Stück auf. Ein Mann und eine Frau. Im Tanz? Im Liebesspiel? Das Licht verschwand.
    Dann hörte ich den Schrei eines Mannes. Laut. Zornig. Verzweifelt. Aber schlimmer als der Schrei selbst war sein Verstummen. Abrupt. So als hätte man auf einen Notschalter geschlagen und alle Energie mit einem Mal abgeschaltet. Es war Olaf, der geschrien hatte. Es war Olaf, der
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