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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
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der letzte.«
Ich könnte ihm nachgehen, versuchen, ihm zu helfen. Aber ich bin nicht verantwortlich für ihn. Jeder muss selbst rausfinden, wie und ob das Leben funktioniert.
Wir spielen Pool, Achter-Ball, ich habe das lange nicht mehr getan, aber Mel hat Sitzung; es soll eine ihrer letzten sein. Seit wir zusammenwohnen, inzwischen fast drei Wochen, schläft sie wieder wie ein Baby. Ich halte sie fest, das ist zwar unbequem beim Einschlafen, aber es fällt mir noch schwerer, sie nicht anzusehen, bis mir die Augen zufallen, oder sie loszulassen.
Kevin ist nett, aber er mag keine Kneipen. Alle Leute, die etwas mit Computern zu tun haben, spielen jedoch Billard, also haben wir uns dafür entschieden. Ich schlage ihn zu Null, was mich erstaunt, denn er spielt nicht schlecht, eigentlich. »Du denkst immer nur an den Stoß, den du gerade machst, und niemals an den nächsten«, das hat Neuner damals zu mir gesagt. Inzwischen ist es anders. Obwohl es mir nicht mehr viel bedeutet, dieses Spiel, plane ich meine Ablagen und mache Sicherheitsstöße, wenn ich merke, dass ich auf dem direkten Weg nichts erreichen kann. Kevin gelingt es nicht, mich zu überraschen, und bei vielen Stößen versenkt er keine einzige Kugel, weil ich ihm wirklich gemeine Ablagen hinterlasse.
Sein Händedruck ist schlaff, und er grinst bemüht, als er mir zum Sieg gratuliert. Wir trinken etwas an der Bar, ich ein Bier und Kevin Cola. Er lenkt das Gespräch auf Wolfgangs Computeranlage, das ist zwar langweilig, aber zweckorientiert, und Kevin scheint es zu begeistern. Eine halbe Stunde später verabschieden wir uns, morgen werden wir uns zum letzten Mal sehen, dann fährt er nach Nieder-Sengricht, richtet sich mein ehemaliges Büro ein und sorgt dafür, dass alles glatt läuft in der Baustoffhandlung, am Abzweig nach Nieder-Sengricht, am Beginn der ParkinsonStraße.
Wir haben uns geeinigt, Wolfgang und ich. Er hat das Haus gekauft und mich ausgezahlt, das dauerte kaum zwei Tage, und er hat sogar noch ein bisschen was draufgelegt. »Schmerzensgeld«, hat er erklärt, am Telefon meckernd gelacht und seinen Blender auf den Schreibtisch gedröhnt. Wieder obenauf, der alte Baustofflude. Gisela wird einwilligen, in alles, was ich von ihr verlange, aber das ist wenig. In der Hauptsache will ich möglichst nie wieder etwas von ihr hören.
Jani-nö hat mich angerufen, aus Hamburg. Sie hat auch ein bisschen Geld bekommen, Schweigegeld, und will vielleicht eine »Butik« eröffnen. Sie klang fröhlich. Boutiquen in Hamburg gibt es sicher viel zu wenige.
Goerch ist gestorben, nicht lange nach meinem Besuch. Es hat eine Weile gedauert, bis die Nachricht bei mir ankam, Wolfgang hat es dann irgendwann erwähnt, bei einem unserer letzten Telefonate.
    Melanie hat sich wirklich verändert, auf sehr eigene Weise. Sie benutzt Abkürzungen nicht wie andere Menschen, sondern sagt Büha und Waklo statt BH und WC, weil sie ihrem Exmann auf diese Art Deutsch beigebracht hat. Es schmerzt, so etwas zu hören, aber sie besteht darauf, mir das zu erzählen, und ich blende die Bilder aus, die ich dabei habe.
    Melanie mag keine Digitalkameras, weil sie verhindern, dass man eine Beziehung mit dem Motiv eingeht, und sie hasst Mobiltelefone, weil sie den privaten Schutzraum zerstören. »Überhaupt«, sagt sie. »All diese Apparate. Immer schneller und kleiner. Genau das machen sie nämlich mit unserem Leben.« Das Internet findet sie furchtbar. »Es suggeriert nur Kommunikation. Dabei ist das eine gewaltige Täuschungsmaschine.«
    Sie ist ein ganz klein wenig wunderlich geworden, aber auf rührende und sehr leise Weise, und ganz unrecht hat sie auch nicht. Sie kann etwas minutenlang anstarren, eine Blüte, ein Gesicht oder eine Wolke, aber wenn wir in ein Taxi steigen und das Radio eingeschaltet ist, wird sie richtig garstig, tippt dem Fahrer auf die Schulter und nötigt ihn auszuschalten. »Früher hat man sich gefreut, wenn man einen bestimmten Titel mal im Radio gehört hat. Heute ist es genau umgekehrt.« Ich muss mich daran gewöhnen, aber das fällt mir nicht schwer, und eigentlich liebe ich es an ihr.
    Melanie ist eine sehr gute Fotografin; sie hat mehrere phantastische Strecken mit Porträtfotos gemacht, die sie in Griechenland aufgenommen hat, kurz bevor dieser Mann in ihr Leben trat. Ich könnte uns ein Häuschen kaufen, irgendwo da unten am Strand. Die Idee muss ich mal sacken lassen. Auch das eilt nicht. Wer es sich leisten kann, mehr als zwanzig Jahre zu verschenken, hat
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