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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
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zusammen duschen. Wir küssen uns pausenlos, auch beim Abtrocknen, dann gehen wir ins Wohnzimmer, setzen uns nackt einander gegenüber auf die Couch. Brad kommt hereingestromert und drückt sich zwischen uns, obwohl da fast kein Platz ist.
    »Ich muss dir etwas zeigen«, sagt sie und steht wieder auf. Sie geht zu einem Regal, zieht einen würfelförmigen Korb hervor, setzt sich im Schneidersitz auf den Fußboden und kramt darin herum.
    Ich möchte diesen Anblick nie wieder vergessen.
Dann kommt sie zurück und hält mir ein Foto hin. Ein Mann, Mitte dreißig, im Halbprofil. Er sieht aus wie ich, nur seine Nase ist ein wenig kräftiger, seine Augen sind etwas dunkler. Sogar die Frisuren gleichen sich fast. Melanie lächelt, aber es ist etwas Bitteres in ihrem Blick.
»Mein Exmann«, sagt sie. »Wir waren zwei Jahre verheiratet. Die zweitschlimmste Zeit meines Lebens.«
Ich sage nichts.
»Meine Eltern waren nach Spanien ausgewandert, ich habe gekellnert, um eine Ausbildung zu finanzieren, da kam er in die Kneipe. Ich habe erst gedacht, dass du das bist, so groß war die Ähnlichkeit. Boris aus Bulgarien.«
»Du hast …« Ich will die Frage nicht stellen.
Sie lächelt. »Es ging mir nicht sehr gut in dieser Zeit. Nichts hat funktioniert. Und dann kam da dieser Mann, der dir so ähnlich sah.«
»Verrückt.«
Sie nickt. »Er war sehr brutal. Er hat mich zu allen möglichen Sachen gezwungen.« Sie wird leiser. »Böse Sachen.«
Ich schweige. Ich will nicht, dass sie jetzt erfährt, dass ich diese Fotos kenne.
»Manchmal wache ich schreiend auf, ich weiß dann nicht, wer ich bin oder wo ich bin. Oft geht es mir tagelang so. Ich kann die Schläge fühlen. Und all das andere, das er mir angetan hat.« Sie weint, ich nehme ihre Hand, sie umspielt meinen Ballen mit den Fingern, wie sie das früher getan hat.
»Inzwischen ist es etwas besser geworden. Ich bin in Therapie. Du errätst nie, bei wem.« Sie lächelt schwach. »Und deshalb wohne ich auch hier. Das ist ein Wohnprojekt für Menschen mit psychischen Störungen.«
»Ich war gestern bei den Kuhlmanns«, sage ich. »Michael hat das angedeutet.«
Sie nickt. »Ist es nicht unglaublich, dass die beiden zusammen sind?«
Ich ziehe sie an mich. »Ab heute werde ich nichts mehr unglaublich finden.«
»Meinst du, wir haben eine zweite Chance?«
Ich nicke, kann den Tränendrang jetzt nicht mehr zurückhalten.
»Das hört sich vielleicht bescheuert an«, sagt sie, »aber dieser Gedanke hat mich in all den Jahren über Wasser gehalten.«
»Es tut mir leid.«
»Das muss es nicht, schließlich war es meine Schuld.« Sie streicht mit den Fingerspitzen über meine Wangen. »Wie hätten wir das auch wissen sollen, damals?«
Ich zwinkere ihr zu. »Wir wussten es doch, oder?«
Sie nickt langsam, aber es liegt nicht nur Zustimmung in der Kopfbewegung.
»Wir waren so jung, und ich weiß heute nicht mehr, warum ich das getan habe. Damals kam es mir richtig vor … Nein, das stimmt nicht. Es kam mir falsch vor, es nicht auszuprobieren. Ich hatte keine Ahnung, was die Folgen sein würden, es war mir egal, obwohl du mir nicht egal warst, wirklich nicht, ganz im Gegenteil. Wir waren sechzehn. Meine Güte, sechzehn.« Sie dehnt das Zahlenwort und sieht dabei zur Decke. »Vielleicht hat es auch etwas Gutes. Man muss schlechte Erfahrungen machen, um die guten würdigen zu können. Wer weiß, ob wir heute noch …« Sie sucht nach den richtigen Worten. »Du weißt schon. Wenn das nicht passiert wäre.«
»You can’t have a light without a dark to stick it in«, sage ich. Das ist von Arlo Guthrie, wenn ich mich recht erinnere. Melanie lächelt.
»Aber ich habe mich verändert«, sagt sie kurz darauf. »Ein wenig.«
Ich sage nichts.
»Es wird ein bisschen dauern, bis wir uns wieder aneinander gewöhnt haben. Meinst du, dass du die Geduld dafür hast?«
»Ich habe gerade nichts Besseres vor,« antworte ich und notiere mir in Gedanken, diese Antwort für die Untertreibung des Jahrhunderts anzumelden.

16. Retro
    Dieser Geruch.
    Vieles hat sich verändert, der Bodenbelag ist neu, die Geräte an der Stirnwand sind es ebenfalls, und die Decke scheint mir etwas niedriger, wie auch die gesamte Halle kleiner auf mich wirkt, als ich sie in Erinnerung habe, allerdings war ich damals ja selbst kleiner, physisch wie mental. Aber der Geruch löst eine Flut von Erinnerungen aus, dieser Duftmix aus Schülerschweiß, Linoleum und einer leicht holzigen Komponente. Ich sehe meine Mitschüler vor mir, wie sie für
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