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Siegfried

Siegfried

Titel: Siegfried
Autoren: Harry Mulisch
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    Als das Fahrgestell hart auf den Beton aufsetzte, schreckte Rudolf Herter aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Das Flugzeug bremste mit heulenden Triebwerken und verließ in sanftem Bogen die Landebahn. Flughafen Wien . Leise stöhnend setzte er sich auf. Er hatte seine Schuhe ausgezogen und massierte mit schmerzverzerrtem Gesicht die Zehen seines linken Fußes.
    »Was hast du?« fragte die hochgewachsene, viel jüngere Frau, die neben ihm saß. Sie hatte rötliches, aufgestecktes Haar.
    »Ich habe einen Krampf in meinem Zeigezeh.«
    »In deinem was?«
    »In meinem Zeigezeh.«
    Er lachte und sah ihr in die großen grünbraunen Augen. »Ist es nicht merkwürdig, daß alle Teile des Körpers einen Namen haben, Nasenflügel, Ohrmuschel, Ellbogen, Handfläche, nur die beiden Zehen links und rechts des Mittelzehs nicht? Die hat man vergessen.« Er lachte und sagte: »Hiermit taufe ich sie auf die Namen Zeigezeh und Ringzeh. Begrüße in mir den Vollender von Adam, der den Dingen Namen gab.« Er sah zu ihr hinüber. »Maria ist im übrigen von Eva nicht allzuweit entfernt.«
    »Du jedenfalls bleibst so verrückt, wie du immer warst«, sagte Maria.
    »Das ist mein Beruf.«
    »Hatten Sie eine angenehme Reise, Herr Herter?« fragte die Stewardess, die ihre Mäntel brachte. »Ich habe nur über Frankfurt ein Viertel Elsässer zuviel getrunken. Schrecklich. Jedes Glas Wein muß ich heute mit zehn Minuten zusätzlichem Schlaf bezahlen.«
    Weil sie Business Class flogen, konnten sie das Flugzeug als erste verlassen. Herter sah in die großen, glücklichen Augen der Crew, die an der Tür stand. Auch der Kapitän war im Eingang zum Cockpit erschienen.
    »Auf Wiedersehen, Herr Herter, schöne Tage in Wien«, sagte er mit breitem Lächeln, »und vielen Dank für Ihr wunderbares Buch.«
    »Ich habe nur meine Pflicht getan«, erwiderte Herter grinsend.
    In der Gepäckausgabe zog Maria einen Wagen aus der ineinandergeschobenen Kolonne, während Herter, den Mantel über dem Arm, an einen Pfeiler gelehnt wartete. Das volle Haar, das sein scharf geschnittenes Gesicht umrahmte, schlug wie Flammen aus dem Schädel, doch gleichzeitig war es so weiß wie die Gischt der Brandung. Er trug einen grünlichen Tweedanzug mit Weste, dessen Aufgabe zu sein schien, seinen langen, schlanken, zerbrechlichen, fast durchsichtigen Körper zusammenzuhalten. Nach zwei Krebsoperationen und einem Schlaganfall fühlte er sich physisch wie der Schatten des Schattens dessen, der er einmal gewesen war – aber nur physisch. Mit seinen kühlen graublauen Augen betrachtete er Maria, die wie ein Jagdhund vor dem Fuchsloch die Augen auf die Gummilamellen richtete, die im einen Moment eine kalbslederne Tasche von Hermès durchließen und im nächsten ein ärmliches, mit Schnüren zugebundenes Paket. Auch sie war groß und schlank, doch dreißig Jahre jünger und dreißigmal stärker. Kräftig zupackend nahm sie ihre Koffer vom Fließband und stellte sie mit einem Schwung auf den Wagen.
    Als sie durch die Schiebetüren in die Ankunftshalle traten, fiel ihr Blick auf eine lange Reihe von Schildern und Zetteln, die in die Höhe gehalten wurden. Hilton Shuttle, Dr. Oberkofler, IBM, Frau Marianne Gruber, Philatelie 1999 … »Niemand holt uns ab«, sagte Herter. »Ich werde immer von allen mit Füßen getreten und ausgelacht.« Ihm war schwindlig.
    »Herr Herter!« Eine kleine, offensichtlich schwangere Frau kam auf ihn zu und reichte ihm lachend die Hand. »Ich erkenne Sie natürlich. Jeder erkennt Sie. Thérèse Röell von der niederländischen Botschaft. Ich bin der zweite Mann.«
    Lachend verbeugte sich Herter und küßte ihre Hand. Ein hochschwangerer zweiter Mann. Das war eines der Dinge, die ihm an den Niederlanden so gefielen: der gute Humor. Auf all den unzähligen literarischen und literaturpolitischen Kongressen und Konferenzen, an denen er in seinem Leben teilgenommen hatte – alle übrigens gleichermaßen sinnlos –, herrschte in der niederländischen Delegation immer die beste Stimmung. Während die Deutschen und Franzosen abends mit bleiernem Ernst zusammenhockten, um die Strategie für den nächsten Tag zu besprechen, bildeten die Niederländer unweigerlich einen ausgelassenen Verein. Selbst während der Kabinettssitzung, so hatte ein befreundeter Minister ihm berichtet, herrschte regelmäßig albernes Gelächter. Der Wagen der Botschaft wartete direkt vor dem Eingang. Der Fahrer, ein Mann mit einem riesigen gezwirbelten grauen Schnurrbart, hielt ihnen
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