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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
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Sprünge über den Kasten anstehen, oder auf dem Boden sitzen, um für eine Ballspielmannschaft ausgewählt zu werden, Kuhle immer zuletzt, jedenfalls zu der Zeit, als er schließlich zur Teilnahme gezwungen war.
    Er steht neben mir und sieht zur Leiter, auf die Martina Bichler, ehemalige Vasenta, gestiegen ist und von der aus sie gerade versucht, Krepppapierbahnen an der Decke zu befestigen. Kuhle trägt Jeans, Turnschuhe, ein weißes XXXL-T-Shirt und darüber ein anthrazitfarbenes BOSS-Sakko in Sondergröße. Ich bin ganz ähnlich gekleidet, aber ausschließlich von der Stange. Vor ihm steht ein Koffer mit CDs auf dem Fußboden, ich habe nur meine Laptoptasche dabei. Martina entdeckt uns, winkt hektisch, hört aber sofort damit auf, weil die Leiter gefährlich zu schwanken beginnt. Wir grüßen fröhlich zurück und gehen dann zur Bühne.
    Das Equipment ist moderner und deutlich umfangreicher als damals. Es gibt diverse Lichteffekte, das Mischpult ist gut dreimal so groß, es gibt vier gewaltige Boxen, die rund um die Hälfte der Turnhalle aufgestellt sind, die als Tanzfläche dienen soll, und auf dem Boden hinter den Tischen steht eine große Monitorbox, über die wir den Hallenton mithören können. Für CDs gibt es einen Doppelplayer, dessen Steuerpult mit dem Mixer in ein Rack eingebaut ist.
    »Dann wollen wir mal«, sagt Kuhle und wuchtet seinen Koffer auf die mit schwarzem Tuch abgedeckte Tischreihe, hinter der wir stehen werden. Auf seiner Stirn glitzern Schweißperlen, sicher nicht allein von der Anstrengung.
    »Der Herr Psychotherapeut ist ein bisschen aufgeregt«, witzele ich, was für mich auch gilt, weniger der Mucke wegen als wegen der Tatsache, dass ich mit ihm hier stehe.
    »Ein bisschen sehr«, antwortet er lächelnd. »Aber das ist in Ordnung.«
Es dauert nur wenige Minuten, meinen Computer zu verkabeln, die Soundkarte anzuschließen und die Anlage zu checken. Ich bin verblüfft, als Kuhle flink die richtigen Regler hochzieht, den CDPlayer startet und den Equalizer justiert. Noch bevor ich etwas sagen kann, probiert er die Lichteffekte nacheinander aus. Von der Leiter ist ein Kieksen zu hören, als sich neben Deutsche-WellePolen die Discokugel zu drehen beginnt. Kuhle lächelt, und ich lege ihm meine Hand auf die Schulter.
»Wie in alten Zeiten«, sage ich.
Er sieht mich erst ernst an, schmunzelt dann aber wieder. »Nein, besser. Und, vor allem: Anders.«
Kuhle hat recht; ich nicke und betrachte ihn von der Seite. Er ist ein anderer und ich bin es auch, aber das heißt ja nicht, dass man nicht etwas Neues beginnen kann. Ich starre auf meine Turnschuhe, als ich bemerke, dass er mich ebenfalls mustert, und blinzele eine einzelne Rührungsträne weg.
    Sie sind pünktlich, weil so eine Fete etwas anderes ist als eine Party, zu der man um acht eingeladen ist und gegen zehn gemächlich eintrudelt. Um kurz vor halb neun ist die Halle gefüllt, und weil wir nur leise Hintergrundmusik laufen lassen, sind das Gelächter und Geschnatter unserer ehemaligen Mitschüler gut zu hören. Wir sitzen etwas versteckt im Halbdunkel am Rand der Bühne und trinken Bier. Im Wechsel zeigen wir auf neu eintreffende Gäste und suchen nach den passenden Namen. Es gelingt nicht immer. Ein kleiner alter Mann kommt auf uns zu, langsam und mit fragendem Ausdruck in seinem faltigen, aber fröhlich wirkenden Gesicht. Schließlich, als er nur noch zwei Meter von uns entfernt ist, nickt er. »Kuhlmann und Köhrey!«
    »Tag, Herr Pirowski«, sage ich, trotz des mächtigen Froschs in meinem Hals. Wir schütteln Hände. Er hat keine Haare mehr.
»Ich habe das damals nicht geglaubt«, sagt er zu Kuhle. »Und ich habe richtiggelegen. Das ist beruhigend.« Er lächelt, verneigt sich und trippelt zur Bar, die aus einigen Lehrerpulten gebaut worden ist.
Kurz darauf hält Deutsche-Welle-Polen eine Ansprache, es gibt viel Applaus, vor allem, als sie aufzählt, wer von uns – es sind vier Jahrgänge vertreten – Abgeordneter, Professor, Bankfilialendirektor oder Facharzt für irgendwas geworden ist. Einen Moment lang fürchte ich, dass sie etwas über mich sagt, zum Beispiel: Und unser Tim, der hat ein paar Jahrzehnte seines Lebens verpennt. Aber das geschieht natürlich nicht. Als sie endet, treten wir aus dem Halbdunkel und klettern auf die Bühne. Es gibt Gemurmel, weil einige nicht wissen, was damals wirklich geschehen ist, vermute ich jedenfalls.
»Soll ich etwas sagen, zu dieser … Sache?«, frage ich Kuhle flüsternd. Er schüttelt
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