Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer
Autoren: Tom Liehr
Vom Netzwerk:
den Kopf.
»Blödsinn«, sagt er leise. Dann verneigen wir uns. Einige Leute beginnen zu klatschen, und nach ein paar Sekunden applaudiert die gesamte Turnhalle. Jemand dimmt die Beleuchtung, fast gleichzeitig flammen die Scheinwerfer auf, die an einer Traverse rund um die Tanzfläche befestigt sind. Kuhle grinst.
»Dann wollen wir mal«, erkläre ich und klicke durch die vorbereiteten Playlists auf meinem Computer.
Aber bevor ich etwas auswählen und starten kann, erklingt Musik. Kuhle grinst wieder, nickend. Die ersten Takte von »Send Me An Angel« sind zu hören. Sehr viel lauter und in sehr viel besserem Sound als damals. Trotz der Lautstärke vernehme ich, wie vereinzelte Ehemalige jubeln oder uns etwas zurufen. Die Tanzfläche füllt sich.
Ich lasse ihn fast eine Stunde lang alleine machen, und er macht das gut, obwohl er nur altes Zeug auflegt. Währenddessen laufe ich durch die Halle, sehe beim Tanzen zu, schüttle Hände oder lasse mir auf die Schulter klopfen. Ich kann nicht mit jedem Gesicht etwas anfangen, manchmal glaube ich kaum, wirklich den und den vor mir zu haben, weil er völlig anders aussieht als früher. Die Stimmung ist entspannt, fast ausgelassen. Ich trinke noch ein Bier, klettre auf die Bühne zurück und löse Kuhle ab. Sein Gesicht ist gerötet, er zwinkert mir zu und geht in Richtung Klo davon. Ich starte einen etwas aktuelleren Titel von Nelly Furtado, die Tanzfläche bleibt gefüllt, füllt sich sogar noch etwas mehr. Kuhle kann später wieder Retromucke machen.
Es fühlt sich gut an. Ich bemerke kaum, wie eine Dreiviertelstunde vergeht, bis er mir auf die Schulter tippt und »Ich übernehme« sagt. Weil er sicher wieder ältere Sachen auflegen will, cue ich »It’s No Good« von Depeche Mode, was zwar neuer ist, aber einen schönen Übergang zurück in die Achtziger bietet. Er nickt.
Und dann kommt Melanie in die Halle. Mein Herz macht einen Hüpfer, als ich sie so sehe – exakt wie damals, nur hat sie etwas kürzere Haare. Und ich bin beinahe genauso aufgeregt wie vor … zweiundzwanzig Jahren. Sie sieht zu uns, lächelt, strahlt, und einige Köpfe drehen sich zu ihr und dann zu mir. Meine Hände beginnen zu zittern, aber bevor ich von der Bühne klettre, um sie zu küssen, drehe ich mich zu Kuhle und sage: »Ich habe da noch einen Musikwunsch.«
»Weiß schon«, sagt er grinsend.
Ich springe vom Podest hinunter und gehe auf sie zu, betont langsam; Melanie hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt, wobei sie mich gekünstelt-schüchtern anlächelt.
»Darf ich bitten?«, frage ich sie. Mel schenkt mir einen fragenden Blick, tut so, als würde sie überlegen, es wohlwollend in Erwägung ziehen, und schließlich nickt sie.
In diesem Augenblick startet Kuhle den Song.
Es ist der einzige Nummer-eins-Hit, den Paul Young je hatte:
»Come Back And Stay«.

Dreieinhalb Epilog
    Ich treffe Neuner, als ich mit meinem Baustoffhandlungs-IT-Fachkraft-Nachfolger Billard spielen gehe. Wir wollen gerade die Treppe zu einer brandneuen, angeblich hervorragend ausgestatteten Billardhalle in der Bergmannstraße hinaufsteigen, als uns jemand entgegengepoltert kommt – ein abgeranzter, von weitem nach Alkohol stinkender Typ, der sich kaum auf den Beinen halten kann und mich fast umreißt. Von oben ruft jemand: »Und lass dich hier nie wieder blicken, du Drecksau!« Der besoffene Geselle macht irgendein grausiges Geräusch, wedelt mit der Hand in der Luft herum, greift nach dem Geländer, verfehlt es und schlägt auf dem Treppenabsatz der Länge nach hin. Die zwei Teile eines Schraubqueues rollen die Stufen herunter. Ich gehe zu ihm, fasse ihn unter die Schultern, hebe ihn hoch, seine Klamotten haben diesen Muffgeruch, als hätte man sie nach dem Waschen zwei Wochen in der Maschine vergessen. Er dreht sein Gesicht zu mir, seine Augen sind wässrig, seine Wangen sind eingefallen, und er hat keine Zähne mehr.
    Es ist eindeutig Neuner.
»Jesus, Neuner«, sage ich fassungslos.
»Äwähhä«, grunzt er, schlägt meine Hand weg und torkelt davon. Beim Versuch, das Queue aufzuheben, fällt er fast wieder hin, fängt sich aber, schleudert seine Schulter gegen die Tür und drückt sie auf.
    »Mensch, Neuner!«, rufe ich, will noch »Ich bin’s, Tim!« anfügen, lasse es aber.
»Was war das?«, fragt Kevin, der kurzhaarige Endzwanziger, den Wolfgang in Hannover aufgetrieben hat und den ich seit einer Woche unterweise.
»Ein Geist aus der Vergangenheit«, antworte ich. Und leise, zu mir selbst: »Hoffentlich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher