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Geh aus, mein Herz

Geh aus, mein Herz

Titel: Geh aus, mein Herz
Autoren: Ake Edwardson
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jemand kommen würde, bevor es zu spät war. War es möglich, Menschen tagelang festgekettet zu halten, ohne dass die Leute in der Umgebung misstrauisch wurden? Wem konnte so etwas entgehen? Aber sie wusste ja, dass die Menschen sich am liebsten nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten. Außerdem war das, was ihr hier geschah, einzigartig. So etwas war noch nie passiert und würde nie wieder passieren, und deswegen würde sie hier liegen bleiben, bis die Sache vollendet war und ihr Geist frei wie der Wind die Wohnung verließ und ihr Fleisch irgendwo anders landete. Daran dachte sie in ihrer größten Verzweiflung: Sie wollte nicht, dass ihr Körper verschwand, aber sie glaubte nicht, dass er ihn sichtbar hinterlassen würde. Dies war etwas anderes. So wäre es anfangs nicht gewesen, hatte er gesagt. Sie sei eine von denen gewesen. Dann war er unsicher geworden. Und jetzt spielte es keine Rolle mehr, war höchstens noch eine praktische Frage. Nein, die Gedanken musste sie von sich wegschieben.
    Sie hatte versucht, mit ihm darüber zu sprechen, es als potentiellen Weg ins Leben ausprobiert. Aber für sie als Frau war es schwieriger. Es war kein Zufall, dass er sein Gesicht vor ihr versteckte. Was ihm angetan worden war, hatte auch Hass auf Frauen bei ihm ausgelöst. Womöglich besonders gegen sie, gegen uns, dachte sie. Angst vor ihnen. Uns. Lebte er schon viele Jahre in dieser Wohnung? Hatte er einen Job gehabt? Er musste schon frühzeitig abgedriftet sein. Mit Argwohn betrachtet worden sein. So einen musste man doch finden. Wieso um alles in der Welt hatten sie seine entsetzliche Wohnung noch nicht gefunden? Gab es denn keine Kollegen mehr dort draußen? Woher kam die Sirene? Wie hatte sie diese Inkompetenz früher ertragen?
    Sie ruhte ein wenig aus. Später: Warum hat er so lange gewartet, dachte sie, warum hat der Entschluss so viel Zeit gebraucht? Jetzt hustete sie und dann wurde es um sie herum rot und danach schwarz und sie dachte nicht mehr.
     
    Wide rekapitulierte seine Reise nach Småland, die Notizen, Fotografien, Bilder in seinem Kopf, Erinnerungen, eigene und die anderer.
    Da war noch etwas in seinem Kopf, seit er zurückgekommen war. Es war eine Aufgabe. Etwas war aufgeblitzt. Zahlen. Eine Aufgabe. Ein Unterschied. Da war ein Unterschied gewesen. Er suchte in seinem Notizbuch, jetzt erinnerte er sich, was es gewesen war. Auf den Fotografien, die Natanael Maars gemacht hatte, waren unterschiedlich viele Kinder in den betreffenden zwei Jahren gewesen. Für den Fotografen hatte das nichts bedeutet. Wide hatte es bemerkt, nicht mehr. Hatten sie darüber gesprochen?
    Er hatte die Gesichter auf den beiden Fotos gezählt. Jetzt erinnerte er sich, dass er im Hotelzimmer gesessen und sie gezählt hatte. Er hatte es aufgeschrieben. Da war die Seite … hier – 1961. Auf dem Foto von 1961 waren zweiundfünfzig Kinder. Im nächsten Jahr: sechsundvierzig. 1962 waren weniger Kinder auf dem Bild oder im Sommerlager. Sechs weniger. Warum? Hatte es doch keine Vorschriften gegeben? Was hatte das zu bedeuten? Gab es eine Antwort?
    Es war Morgen, ein dunkler Morgen, obwohl es schon halb zehn war. Jonathan Wide hob den Telefonhörer ab, noch ein Auswärtsgespräch, er wartete, es klingelte dreimal, beim vierten Mal wurde es unterbrochen, als am anderen Ende abgehoben wurde.
    »›Natanaels Porträt‹, guten Morgen.«
    »Guten Morgen. Spreche ich mit Natanael Maars?«
    »Ja.« (Räuspern.)
    »Hier ist Jonathan Wide, der Detektiv aus Göteborg. Ich war vor einigen Tagen bei Ihnen wegen einiger Bild vom Kinderfe…«
    »Ich erinnere mich an Sie.«
    »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie noch einmal belästige. Es geht um die Fotos, die ich gekauft habe, von diesen beiden Jahren in den Sechzigern. Es klingt vielleicht seltsam, aber ich frage mich, warum unterschiedlich viele Kinder auf den Bildern sind.«
    »Unterschiedlich?«
    »1961 waren es mehr.«
    »Aha.«
    »Das ist Ihnen gar nicht aufgefallen?«
    »Na ja, nicht direkt, es war eben mal so und mal so.«
    »Es waren von Jahr zu Jahr unterschiedlich viele Kinder?«
    »Ja, so war es wohl, aber manchmal waren auch nicht alle anwesend. Vielleicht konnten nicht alle in dem Moment dabei sein.«
    »Konnten nicht in dem Moment dabei sein«, wiederholte Wide.
    »Nein.«
    Gab es noch mehr Bilder von dem jeweiligen Sommer? Hatte er schon danach gefragt? Nein.
    »Ist es nie vorgekommen, dass Sie noch mehr Bilder in so einem Sommer aufgenommen haben? Ich meine, in einer Art
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