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Geh aus, mein Herz

Geh aus, mein Herz

Titel: Geh aus, mein Herz
Autoren: Ake Edwardson
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dem Kind, sie wirkten wie eine Einheit.
    »Sie hat bestimmt anderes im Kopf.«
    »Quatsch, du weißt, was ich meine.«
    »Ein andermal. Ich möchte lieber ein Stück zu Fuß gehen.«
    »Vielleicht hinterher, es sind sowieso nicht viele Leute da.«
    Aber Wide setzte sich bereits in Bewegung.
    »Bis dann. Ich ruf dich an.«
    Berger schaute zu seiner Familie. Lisa winkte.
    »Okay, pass auf dich auf.«
    Der Wind kam von Osten. Wide spürte es, als er die Treppen zur Karl Johansgatan hinunterging. Er zog den Reißverschluss seiner Wildlederjacke bis zum Hals zu. Als er nach unten sah, stellte er fest, dass sein Sakko fünf Zentimeter unter der Jacke herausragte.
    Der späte Oktoberhimmel lag wie mehrere Schichten Aluminium über der Stadt und in den Lücken dazwischen konnte man das blassblaue Gewölbe weit dort oben nur ahnen. Der Tag war düster, obwohl es noch nicht einmal Mittagszeit war. Die Stadt hatte den Häutungsvorgang beendet, Göteborg verkroch sich wieder in der Dunkelheit, die acht Monate des Jahres der Normalzustand war. Die kräftigen Farben des Sommers wurden von dem dunklen Gewölbebogen aufgesogen, abgeschwächt; sie verblassten und starben. Die Sonne bewegte sich in einem beschleunigten Umlauf, die Menschen wussten es, sahen es aber selten. Sie kleideten sich den stumpfen Farben entsprechend. Darin lag eine Würde, die verlässliche Gewissheit, dass man in einer subarktischen Küstenstadt am nördlichen Rand der Welt lebte.
    Es begann zu nieseln und Wide schlug den Jackenkragen hoch. Er ließ die Straßenbahn der Linie neun passieren, überquerte rasch die Straße und ging zum Allmänna Vägen hinauf. Auf dem kleinen Spiel- und Rastplatz bei der Kreuzung fand eine Art Fest im Freien statt, obwohl es schon Herbst war. Vier Männer und eine Frau kauerten mit Bierdosen und billigem Wein bei der Sandkiste. Eher Rest- als Rastplatz, dachte er, ein Ort für die menschlichen Restprodukte der Gesellschaft, und er hob den Blick, als einer der Männer seinen Arm in den Himmel reckte und etwas rief.
    Manchmal schauderte Wide, wenn er die heruntergekommenen Gestalten sah; es war unmöglich, ihnen nicht zu begegnen, wenn man sich im westlichen Göteborg nach draußen begab. Er sah sie und trat beiseite, und manchmal sah er sich selbst für den Bruchteil von Sekunden als einen von ihnen in der träge fließenden Menge zum staatlichen Schnapsladen am Jaegerdorffsplatsen wanken. Wie oft konnte ein Mann sich eigentlich vornehmen, mit dem Trinken aufzuhören, ohne dass auch sein letzter Rest Stolz verschwand? Es war ein sinnloser Gedanke.
    Jonathan Wide folgte der Djurgårdsgatan in südlicher Richtung, kaufte sich bei der Shell-Tankstelle an der Kreuzung zur Bangatan eine Schachtel Fishermen’s und beschloss, die Fjällgatan hinauf zum höchsten Punkt von Masthugget zu gehen. Es hatte aufgehört zu regnen. An der Steigung kam er ein wenig außer Atem. Die Pastillen brannten in seinem Hals, er überlegte kurz, in was für einer Verfassung sich sein Körper im Augenblick wohl befinden mochte, und ging weiter zu den neueren Mietblöcken, die am Abhang zum Masthuggstorget lagen. Es waren Häuser, wie geschaffen für das spätherbstliche Göteborg: grau gesprenkelt, wie in strömendem Regen erbaut, wenn man keine klare Sicht hatte, unmöglich, darin heimisch zu werden. Er wusste es; er hatte hier gewohnt. Die Eigentumswohnung hatte es ihm und Elisabeth ermöglicht, später das Haus in Fredriksdal zu kaufen, das Haus, das er schließlich verlassen hatte … gezwungenermaßen – er sah es immer noch so, er konnte es nicht anders sehen.
    Wide wanderte im Schatten der Patrizierhäuser in Olivedal die Vegagatan in südlicher Richtung und weiter auf dem Fahrradweg zum Botanischen Garten hinauf. Er betrat ihn durch das schmiedeeiserne Tor, und wie immer wunderte er sich darüber, dass kein Eintritt verlangt wurde. Wie lange würde das noch so bleiben?
    Lange spazierte er zwischen den schlafenden Rosen umher, folgte dem breiten Hauptweg und stieg gemächlich zum Steingarten hinauf. Er war außer Atem, aber es war ein gutes Gefühl. Er war nicht richtig gekleidet, unter Jackett und Jacke klebte ihm das Hemd auf der Haut. Das machte nichts. Mitten auf dem Hügel begegnete er einem Mann; es folgte dieser kurze Moment, wenn sich gleichgültige Blicke begegnen, Gedanken kurz unterbrochen werden. Doch plötzlich, wie unter Zwang, drehte Wide sich um, sah den Rücken des Mannes, der nach unten ging. Er hatte das Gefühl, dieses Gesicht
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