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Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)

Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)

Titel: Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)
Autoren: Gabriele Keiser
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eine Ahnung hatte, wie sie wirklich tickte.
    Nein, nicht dran denken. Das Mädchen im dünnen Hemd war eine Märchenfigur. Sterntaler. Den Blick zum Himmel gerichtet. Damit es den Mann nicht sehen musste.
    Sie wollte den Mann nie wieder sehen.
    Heute, das ist das Leben. Und was gestern war, ist vorbei. Morgen, das ist deine Zukunft.
    Das musst du dir immer wieder vorsagen. Wie ein Gebet!
    Morgen wird alles besser. Du musst nur dran glauben. Wer glaubt, ist stark. Glaube kann Berge versetzen, so heißt es doch.
    Ihre Erinnerung war ein Patchworkteppich aus verschieden gemusterten Flickstücken, die lose aneinandergeheftet waren. In den bunten Flickstücken waren Risse und Löcher, durch die ihre Vergangenheit hindurchschimmerte. Unvollständig und mit der Zeit blass geworden.
    Man musste sich nicht an alles erinnern. Das war auch gut so.
    Doch diese andere Stimme gab keine Ruhe. Die Stimme, die tief aus ihrem Inneren kam.
    Mach dir doch nichts vor.
    Das Mädchen im dünnen Hemd bist du. Das ist kein Märchen. Das ist die nackte Wahrheit!
    Quatsch. Das Mädchen im Hemd ist eine Märchenfigur. Sterntaler hat alles Glück der Welt in seinem dünnen Hemdchen gesammelt.
    Glück? Weißt du überhaupt, was Glück ist?
    Ihr Mund war ausgetrocknet, ihre Glieder schmerzten. Sie rollte die geschwollene Zunge mit dem Metallkügelchen darin, obwohl das den Schmerz verstärkte. Bildfetzen zuckten wie helle Blitze durch ihren Kopf. Sie hielt sich die Hand vor die Augen, presste die Lider zusammen.
    Nichts mehr sehen wollen.
    Es nützte nichts. Obwohl sie es nicht wollte, sah sie deutlich ein kleines Mädchen, das in Hemd und Höschen Turnübungen machte.
    »Die Beine auseinander, gestreckt!«
    Das Mädchen bemüht sich, den Befehlen zu gehorchen, die ein Mann erteilt, den es Vater nennen soll.
    »Du dummes Ding, das soll ein Spagat sein? Wann kapierst du endlich, wie das geht?«
    Sätze in russischer Sprache. Das verängstigte Mädchen versucht, die Beine zu einer geraden Linie auszustrecken. Das rechte Knie gehorcht. Doch das linke Knie beult immer wieder, will nicht unten auf der Erde bleiben, weil es so wehtut. Dann trifft es der andere Schmerz mit unglaublicher Wucht. Er kommt von einem Stock, den der Mann in der Hand hält. Ein Rohrstock, der hart auf sein Knie schlägt.
    »Wollen doch mal sehen, ob wir dir nicht Zucht und Ordnung beibringen können!«
    Brutal zieht der Mann das Mädchen hoch, streift ihm das Höschen herunter. Der Rohrstock klatscht auf seinen nackten Hintern. Das Kind heult Rotz und Wasser. Schreit und jammert.
    Mama, wo bist du?
    Karim, warum bist du weggegangen?
    War sie das, die eben geschrien hatte? Verdammt! Wieso musste sie immer wieder an früher denken? Das war doch längst vergessen und vorbei. Sie war in Deutschland. Nicht mehr in Kasachstan.
    Aber warum hörte dann das verdammte Zittern nicht auf?
    … goes ’round and ’round yet it stops with me …
    Die lauten Rhythmen der Musik, die aus einem der Nebenzimmer drangen, verschmolzen mit weiteren Erinnerungsfetzen, die sich in ihrem Kopf sammelten und dort herumwirbelten. Ihr wurde kalt, dann heiß und sofort wieder kalt. Sie zitterte und drückte die Lider so fest zusammen, dass sie Sterne im Dunkeln glühen sah. Dem Schwindel ausweichen. Diese unsägliche Unruhe abstellen. Ausschließen, alles, was dich belastet, ausschließen.
    Glorious hunter of my faith I have sinned.
    Sie versuchte, sich auf die Musik zu konzentrieren. Töne, die aus allen Ecken drangen und auf sie einströmten. I hre Lippen wollten die Liedzeilen formen, doch der Gesang war schneller.
    Dann begann das Hämmern und Dröhnen, das in ihren Kopf schoss und ihren Schädel zu zersprengen drohte. Ihre Zähne schienen sich selbständig zu machen. Die Hände kleine Motoren, die nicht stillstehen wollten.
    Sie konnte nicht mehr ausweichen. Schweiß rann ihr in die Augen, der beim Blinzeln brannte wie Feuer. Alles tat ihr weh. Das Herz, der Körper, die Seele.
    Mühsam stand sie von ihrem Bett auf und schleppte sich ins Bad. Dort hatte sie deponiert, was sie in solchen Momenten brauchte.
    Sie öffnete das schmale, si lberne Briefchen und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe. Auf dieses einzige Mittel, welches das Chaos in ihrem Kopf und in ihrem Körper überlisten konnte. Das Mittel, das den Schmerz und das Zittern wegzauberte.
    Es war das letzte Pac . Sie musste bald für Nachschub sorgen. Wieder im Bett, suchte sie ihren Arm ab. Fand eine Vene. Setzte die Nadelspitze an. Drückte.
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