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Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)

Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)

Titel: Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)
Autoren: Gabriele Keiser
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sie es kaum erwarten, nach dem ersten Schneefall den Schlitten aus dem Schuppen zu holen und dick eingemummt mit Wollhandschuhen und tief ins Gesicht gezogener Mütze auf den Krahnenberg zu stapfen, wo sie sich mit den anderen Kindern zum Schlittenfahren traf. Zu viert oder fünft bildeten sie dann eine Kette, indem sie die Holzschlitten mit Kordeln aneinanderbanden. Und wenn alle bei der Talfahrt in den Schnee purzelten, gab es lautes Gelächter.
    Sie war ein fröhliches Kind gewesen, das gern lachte. Nicht nur ihre Erinnerung, auch die Kinderbilder in ihrem Album bezeugten dies. Schwarz-Weiß-Fotos mit gezackten Rändern, die glückliche Augenblicke eingefangen hatten. Ein lachendes Kind mit roten Wangen inmitten einer Sommerwiese am Ufer der Nette oder auf dem neuen Fahrrad, um das alle sie beneidet hatten.
    Wie flüchtig das alles war und wie lange her. Eine halbe Ewigkeit. Damals war sie eine von ihnen gewesen. Heute, da sie wusste, was es mit diesem Leben auf sich hatte, war sie zu einem Fremdling geworden. Ein trauriges, irres Schaf, das sich nicht mehr der Herde zugehörig fühlte. Eine alte Frau mit dicken Brillengläsern vor den trüben Augen und einem bitteren Geschmack auf der Zunge. Eine Frau, die sich mit dem restlichen Leben, das ihr noch verblieb, schwertat.
    Seufzend lehnte sie ihren fülligen Körper gegen das massive Holzportal, das nur widerwillig nachgab. Nachdem sie den Vorraum betreten hatte, fiel hinter ihr die Tür zu und schloss die Geräusche von draußen aus. Durch eine Glastür betrat sie eine andere, stille Welt. Fahles Licht fiel durch die bunten Glasfensterscheiben. Eine Wohligkeit umfloss sie, als sie den vertrauten Duft von Weihrauch und Kerzenwachs roch. Sie war allein in der Kirche, jedoch in der Stille der hohen Räumlichkeit vermeinte sie, den leisen Widerhall von Tausenden Gebeten und Litaneien zu hören.
    Der Mariendom, das war ihre Kirche. Hier konnte sie Einkehr halten. Sobald sie dieses Gebäude mit seiner bewegten und in vielen Kunstschätzen dokumentierten Geschichte betrat, spürte sie Ruhe über sich kommen. Eine Ruhe, die zumindest zeitweise die Kälte aus ihren Knochen vertrieb und die ihr Herz wieder in einem regelmäßigen Takt schlagen ließ. Sie tauchte zwei Finger in das Weihwasserbecken und bekreuzigte sich. Je weiter sie in das Innere der Kirche schritt, umso deutlicher spürte sie seine Nähe. Diese Zugehörigkeit zu Gott, dem Vater aller Lebewesen.
    Ihre Gedanken flogen zurück. Kurz erinnerte sie sich daran, wie sie als junge Frau während eines Parisbesuchs die Kirche Notre-Dame betreten hatte. Wie beeindruckt sie gewesen war von der gewaltigen Dimension und Schönheit des Gotteshauses, in dem sie sich so klein und unbedeutend fühlte. Ein Mädchen, das dachte: Wenn es tatsächlich einen Gott gibt, dann ist das hier seine Wohnung. Inzwischen zweifelte sie nicht mehr an der Existenz eines Gottes. Sie hatte am eigenen Leib erfahren, wie er schützend die Hand über seine Menschenkinder hielt, nachsichtig und voller Gnade, bereit, ihre kleinen und größeren Sünden zu vergeben.
    Wir sind alle Sünder und werden einst wieder Staub sein. Gedenke, Mensch, dass du Staub bist – und zum Staub kehrst du zurück.
    Stand es nicht so in der Bibel?
    Hinter sich hörte sie ein Geräusch. Kurz darauf Schritte.
    »Guten Morgen, Frau Kayner«, sagte eine männliche Stimme.
    Sie nickte kurz und ging ohne ein Wort an dem Mann vorbei. Sie spürte, wie der ältere Herr, den sie flüchtig kannte, sich umdrehte und ihr nachsah.
    Doch sie wollte nicht gestört werden, und sie hatte auch keine Lust, sich zu unterhalten. Aus ihrem Portemonnaie nahm sie ein Fünfzigcentstück und warf es in den Opferstock. Dann zündete sie eine Kerze an. Ein Lichtchen, das für sie leuchten sollte in dieser unverständlichen Welt.
    Ihre Augen wanderten zwischen dem Segen spendenden Jesus und den darunter züngelnden Kerzenflammen hin und her. Kleine Feuerblumen, dachte sie.
    »Ein Licht auf deinem Wege.«
    Wer hatte das gesagt? Sie sah sich um, doch in ihrer unmittelbaren Nähe war niemand zu sehen. Der Herr, der sie gegrüßt hatte, saß viel weiter hinten in sich versunken auf einer der Bänke.
    Eine Weile verharrte sie hier, dann ging sie nach vorn zum Altarraum und betrachtete die Jungfrau Maria mit ihrem Kind im Strahlenkranz, umgeben von Engeln.
    Sie setzte sich in die vorderste Bankreihe und faltete andächtig die Hände. Dieser Anblick rührte sie stets aufs Neue. Maria, wie sie das Kind
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