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Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)

Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)

Titel: Gartenschläfer: Der zweite Fall für Franca Mazzari (German Edition)
Autoren: Gabriele Keiser
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betrachtete, mit einem eigentümlichen Lächeln im Gesicht, das Stolz ausdrückte und vielleicht auch schon das Wissen um die späteren Schmerzen ihres einzigen Sohnes.
    Auch ihr war nur ein einziges Kind vergönnt gewesen. Kein Sohn. Eine Tochter. Der Augenblick kam zurück, die übermächtige Empfindung, die sie durchströmte, als sie ihr Neugeborenes in den Armen hielt. So winzig und so zerbrechlich. Die Haut fast durchscheinend, der zarte Flaum auf dem Kopf. Damals hätte sie zerspringen können vor Glück. Es war einer jener seligen Momente, den sie ihr Leben lang nicht vergessen würde.
    Sie ächzte beim Aufstehen, schwankte kurz und hielt sich an der Kirchenbank fest. Die Knie taten ihr weh. Sie sollte zum Arzt gehen. Manchmal wurden die Schmerzen schlimmer, je weiter der Tag voranschritt.
    Beim Hinausgehen verharrte sie einen Augenblick vor dem Ungarnkreuz. Ihr Blick wanderte über den geschundenen Männerkörper, der über und über von Blut bedeckt war. Durch die Hände Nägel getrieben von Menschenhand. Der Kopf mit der Dornenkrone war auf die Brust gesunken. Das Gesicht schmerzentstellt.
    Einen flüchtigen Moment lang dachte sie über den Lauf der Dinge nach, welche Zeitspanne und welche besonderen Ereignisse zwischen dem Kind auf dem Arm seiner Mutter und dem erwachsenen Mann am Kreuz lagen und wie sich alles veränderte. Und dann dachte sie noch, dass es einer von den Seinen war, der ihn verraten hatte.
    Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen.
    Gottes Sohn, seit über zweitausend Jahren tot, rührt uns noch immer durch seine Menschwerdung. Menschwerdung, heißt das nicht: Schmerzen und Verluste ertragen und erdulden können? Egal, was einem angetan wird. Bereit sein, zu vergeben und Gnade walten zu lassen.
    Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.
    Ein wahrhaft tröstlicher Gedanke.
    Doch die Toten belasten uns nicht durch ihre plötzliche Abwesenheit, sondern durch das, was ungeklärt geblieben ist zwischen ihnen und denjenigen, die sie zurücklassen. Ist es nicht so?
    Sie brauchte sich nichts vorzumachen. Sie hatte keinen Frieden, und ihre Wunden waren nicht geheilt.
    Als sie das Kirchenportal aufdrückte, trafen Regentropfen, scharf wie Nadelspitzen, ihr Gesicht. Sie zog den Kragen ihres Mantels hoch und bedauerte, keinen Schirm mitgenommen zu haben. Dann musste sie unwillkürlich lächeln. Der Mensch hält so vieles aus. Was sind da schon ein paar Regentropfen?
    Als sie eine Weile durch die Regenschnüre gelaufen und einigen Pfützen ausgewichen war, die aussahen wie graue, kleine Spiegel, dachte sie: Gut, dass ich nicht daran glaube, dass das Leben mit dem irdischen Dasein ein Ende nimmt.

3
     
    Beim Aufwachen spürte sie das Zittern von innen heraus. Dumpfes Pochen kroch langsam in ihre Glieder. Die andere Betthälfte war noch immer leer. Ein Juckreiz überfiel sie. Lilly spürte, wie die Unruhe in ihr wuchs. Das anfängliche Streicheln ihrer Hände auf ihrer Haut verwandelte sich in ein schmerzhaftes Kratzen. Immer intensiver verlangte ihr Körper nach etwas, das sie ihm noch nicht geben wollte.
    Ich bin stark … ich habe keine Angst …
    Die Selbstbeschwörungsformeln halfen nicht mehr.
    Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Etwas drückte hart auf ihre Brust. Weltschmerz, Selbsthass und Zorn bildeten eine explosive Mischung, die sich schließlich in der Wut auf Karim Bahn brach. Wie sie es hasste, wenn er ging, ohne etwas zu sagen. Und sie nicht wusste, wohin er gegangen war.
    Scheißtyp, soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.
    Sie schlug die Augen auf. Die toten Augenhöhlen des Skeletts an der gegenüberliegenden Wand waren auf sie gerichtet. Lilly starrte zurück.
    Cycle of life and death supposedly …
    Killers are quiet like the breath of the wind.
    Von irgendwoher drang Musik. Harte, dissonante Klänge, die, zusammen mit dem Druck auf der Brust, etwas aus dem Dunkel in ihrem Innern an die Oberfläche spülten.
    Ein kleines Mädchen im dünnen Hemd. Vor dem Kind stand ein großer Mann.
    Sie spürte den Schwindel, der die blitzartig aufflackernden Erinnerungsfetzen begleitete.
    Nicht schon wieder, bitte nicht!
    Flashbacks hieß so was, hatte ihr mal eine Psychologin erklärt, eine von den Seelenklempnerinnen, die sich vergeblich an ihr abgearbeitet hatten. Die ihr versucht hatten, zu erklären, warum sie so tickte, wie sie tickte. Pff, alles Quatsch. Weil ja doch niemand
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