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Klack: Roman (German Edition)

Klack: Roman (German Edition)

Titel: Klack: Roman (German Edition)
Autoren: Klaus Modick
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Agfa Clack
    Im Westen ist die Luft wieder rein, ausgewaschen die bleierne Schwüle. Die regenschwere Schleppe des Sommergewitters zieht letzte Wolkenfetzen nach Osten. Verspätete Böen kräuseln die Pfützen, auf denen die Abendsonne glüht. Auf der Terrasse Tontrümmer, rostrote Scherben, handtellergroß und fingernagelklein. Der Sturm hat Ziegel vom Dach gerissen. Von unten ist nichts zu erkennen; erst auf dem Speicher zeigt sich der Schaden. Damit hier ein Dachdecker arbeiten kann, muss das Gerümpel unter der Schräge beiseitegeräumt werden – ramponierte Möbel, kaputte Koffer, Kisten und Kartons, die schon manchen Umzug mitgemacht haben, nie ausgepackt und selbst bei Sperrmüllabfuhren vergessen.
    Durchs Loch im Dach ist Regenwasser eingedrungen, hat einen der mürben Kartons so durchweicht, dass er beim Verschieben auseinanderreißt. Bücher rutschen auf die Dielen, Algebra II, Der Lederstrumpf , Physik Mittelstufe , Der Schatz im Silbersee , Der Große Diercke-Weltatlas und Der kleine Stowasser , eine Handvoll Reclamhefte, Der Schimmelreiter , Don Carlos , Die Judenbuche und Kleider machen Leute . Im Sonnenlicht, das durch die Luke fällt, tanzt Staub, riecht wie Kreide, wie Schule, und die dunklen Spalten zwischen den Fußbodendielen sind Linien in Schreibheften. Eine klamme Plastiktüte, Kaufhaus Kepa – Das Paradies der Dame , voll mit Muscheln und Kieselsteinen, brackig müffelnde Relikte heller Nordseesommer. Fußballschuhe ohne Schnürbänder, Grasreste schimmeln zwischen den Stollen. Fahrradflickzeug. Eine Wasserpistole aus rotem Plastik. Der Abzug klemmt. Verrostete Schlittschuhe. Schienenstücke einer Modelleisenbahn Märklin. Ein kleiner Karton Leibniz-Keks nach alter Tradition in thermoplastischer Steifpackung konserviert zwei Faller-Häuschen, Stellwerk und alpenländischer Bergbauernhof. Eine Blechdose Globol tötet Motten und Mottenbrut , darin Bakelitpanzer, Plastiksoldaten, Wikingautos. Ein luftloser Lederfußball, in sich selbst versunken wie ein Schrumpfkopf aus Kannibalien. Noch eine Plastikpistole, in deren Innerem es klötert. Erbsen. Die Schulflure liegen voller Erbsen. Ein Lehrer sagt mit saurem Gesicht: ihr wisst ja gar nicht, was Hunger ist, und Erbsenpistolen werden auf dem Schulgelände verboten. Zwei Tischtennisschläger mit abgeschabten Gumminoppen. Ein Schuhkarton Salamander Knabensandalen Hopps, zusammengehalten von brüchigen Einweckgummis. Hopps? Der grüne Frosch auf dem Kartondeckel, Lurchis bester Freund. Lurchi, der Feuersalamander, besteht mit seinen Freunden abstruse Abenteuer. Sie gehen glimpflich aus, weil Lurchi und seine Freunde unverwüstliche Salamanderschuhe tragen. Lange schallt’s im Walde noch – Salamander lebe hoch!
    Bis eben hast du gar nicht gewusst, dass du so etwas noch weißt. Es fällt dir einfach zu, weil du nicht danach gesucht hast. Die Gummibänder zerbröseln beim Abstreifen unter den Fingern wie trockene Brotkrumen. Tief unten im Karton liegt ein hellbraunes Ding aus Weichkunststoff, und du weißt jetzt auch sofort, dass dies Ding die Bereitschaftstasche ist, ein Schonbezug wie die Schonbezüge aus Plastik auf den Autositzen, die Schondecken auf Tischen, die Schonkissen auf Sofas. Und immer noch birgt die Bereitschaftstasche die Kamera. Agfa Clack. Einlinsiges Objektiv. Rollfilm, Format 6 × 9. Clack, weil der Auslöser klackt, wenn man ihn drückt. Immer noch. Das Kunststoffgehäuse beklebt mit schwarzem Lederimitat. Die Narbung erinnert an Krokodil- oder Schlangenhaut, an Dschungelexpeditionen, Giftpfeile und Malaria, an die Fieberträume, in denen du herumirrst, als du im längst versunkenen Sommer mit Mumps im Bett liegst, umströmt vom herbsüßen Duft der Holunderbeeren. Er dringt aus der Küche, wo Mutter Marmelade kocht. Im Duft schwebt ihre Stimme durch den Halbschlaf. Sie singt.
Ramona, zum Abschied sag ich dir Goodbye,
Ramona, ein Jahr geht doch so schnell vorbei,
Ramona, denk jeden Tag einmal daran,
Ramona, dass nichts vergeht, was so begann.
    Dann ist es wunderbar still. Geschirr klappert wie Hufschlag oder Kastagnetten. Dass nichts vergeht, was so begann. Dass nichts vergeht, nicht einmal der Holunderduft, dessen süße Bitterkeit das Aroma allen Erinnerns verströmt. Auch wenn wunderbarerweise keiner das Jahr kennt, droht doch der Weltuntergang, und Mauern werden gebaut, eine weit weg in Berlin, und auf der Gartengrenze zum Nachbarhaus eine andere. Und plötzlich weißt du, dass der wahre Sommer nicht der ist, den du gerade
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