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Ganz oder gar nicht

Ganz oder gar nicht

Titel: Ganz oder gar nicht
Autoren: Alexandra Sellers
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Scham hatten sie schrecklich gequält. Sie ahnte, wozu sein Zorn ihren Großvater hinreißen würde. Sie wollte ihr Baby sofort nach der Geburt zur Adoption freigeben, aber sie musste jetzt ganz dringend einen Weg finden, wie sie die Schwangerschaft vor ihrer Familie verheimlichen konnte.
    London war ein Zentrum der verschiedensten Strömungen. Es gab zu viele Augen, die einen beobachteten.
    Rosalind, geprägt von westlichen Vorstellungen, hätte noch wenige Tage zuvor entrüstet gesagt, Lamis solle ihrer Familie unbedingt alles erzählen, denn es könne doch nicht sein, dass ir gendjemand ihr die Schuld gäbe. Doch nach jenem Brief von Jamshids Großvater hatte Rosalind verstanden, dass Lamis sich vor dem Zorn ihres Großvaters schützen musste, koste es, was es wolle.
    Beide waren völlig am Boden zerstört gewesen, und wahrscheinlich deshalb hatten sie nicht genügend über die möglichen Konsequenzen nachgedacht, als sie ihren kühnen Plan schmiede ten. Es erschien damals so bestechend einfach: Lamis würde ihr Kind unter Rosalinds Namen bekommen.
    Rosalind wollte sich ein paar Monate unbezahlten Urlaub nehmen, das wäre kein Problem. Lamis könnte unter dem Vor wand, Forschungen für ihre Doktorarbeit anzustellen, einige Monate aus London fortgehen, ohne Aufsehen zu erregen. Sie wollten sich eine Stadt im Norden Englands aussuchen, wo nie mand sie kannte und wo der Anteil orientalischer Mitbürger ziemlich hoch war.
    Lamis wollte unter Rosalinds Namen zum Arzt gehen, unter Rosalinds Namen das Kind zur Welt bringen und gleich zur Adoption freigeben. Alles wäre ganz einfach. Und es funktionierte.
    Zwei junge Frauen in Birmingham, die ein sehr zurückgezogenes Leben führten. Lamis, die nie zuvor in ihrem Leben einen Schleier getragen hatte, ging jetzt nie unverschleiert aus dem Haus. Der Arzt, zu dem sie ging, akzeptierte stillschweigend ihre Behauptung, sie sei verwitwet, ohne die geringste Ahnung zu haben, worum es wirklich ging.
    Rosalind stand Lamis bei der Geburt ihres Kindes zur Seite. Sie brachte es zu Hause zur Welt mit Hilfe einer Hebamme. Die Geburt verlief rasch und ohne Komplikationen.
    Alles war nach Plan verlaufen, bis die beiden Frauen das niedliche Baby betrachteten und sich nicht vorstellen konnten, es wegzugeben ...
    „Ich musste Lamis damals hoch und heilig versprechen, niemals Kontakt zu ihr aufzunehmen", erklärte Rosalind. „Es brachte sie fast um, ihr Baby zu verlassen, aber sie wusste, sie hatte keine Wahl."
    „Ruf mich niemals an, Rosalind, und schreib mir auch nicht", hatte Lamis mit tränenerstickter Simme gefleht. „Ich muss das Kind vergessen, sonst werde ich verrückt. Ich werde alle, die ich kenne, belügen müssen, und ich kann nicht mit zwei Wahrheiten leben. Es würde mich umbringen."
    Und so war das Kind zu Rosalinds Sohn geworden.
    „Ich muss dir noch etwas sagen", sagte Rosalind.
    Der Mond stand jetzt hoch über den Bergen.
    „Ich habe mich geirrt, Najib. Ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass Jamshid mir doch die al Jawadi Rose gegeben hat."
    „Was?" rief Najib.
    „Jamshid sagte, es sei ein Rosenquarz, ein altes Erbstück, das nur sentimentalen Wert habe. Ich musste ihm versprechen, dass ich es, falls er nicht aus dem Krieg zurückkehren würde, niemals aus der Hand gäbe und später seinem Sohne geben würde als Erinnerung an seinen Vater."
    Najib war sekundenlang sprachlos. „Wo ist die al Jawadi Rose jetzt?"
    „In meinem Wohnzimmer. In einem geschnitzten Kästchen neben der Glaskugel von Lamis, die mit der Rose darin, die du in der Hand hattest."
    „Sam", sagte Rosalind. „Das ist deine Tante Lamis."
    Rosalind war sehr nervös gewesen, als sie von Lamis Ankunft erfahren hatte, aber von dem Augenblick, als sie ihre alte Freundin wieder sah, war alles gut gewesen. Lamis hatte sie an sich gedrückt und gleichzeitig gelacht und geweint. „Oh, Rosalind!"
    Und dann hatte Lamis darum gebeten, Sam sehen zu dürfen. Zara hatte ihnen für diese Begegnung ihre privaten Gemächer zur Verfügung gestellt.
    „Hallo", sagte Sam scheu und versteckte sich hinter Rosalind.
    „Oh, er ist wirklich ganz der Großpapa", rief Lamis. „Hallo, Samir." Sie streckte die Arme aus.
    Sam sah Rosalind an, und als sie lächelte, ging er auf Lamis zu.
    Sie nahm ihn vorsichtig in die Arme. „Oh, was für ein lieber Junge du bist!" Mit einer Selbstbeherrschung, die Rosalind fast das Herz brach, küsste sie ihn auf die Wange.
    Sam blickte sie nur stumm an. „Wieso bist du meine Tante?"
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