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Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Titel: Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Autoren: Dennis Gastmann
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so grau wie die Landstraße, und das Gras, das neben dem Gehsteig wächst, ist genauso braun wie die gefrorenen Äcker links und rechts. Krähen schreien in den Gerippen der Birken, es riecht nach Tod und feuchter Erde, die Luft ist eiskalt.
    Das Dorf Apensen ist der letzte Außenposten der Zivilisation. Ich kaufe noch zwei Mettbrötchen, eine Flasche Wasser und einen schwarzen Kaffee. Es gibt hier sogar eine Sparkasse. Vor dem Friseursalon «Haarmonie» auf der anderen Straßenseite steigt gerade eine Frau in ihren roten Kombi. «Das sieht sportlich aus!», ruft sie. «Wo soll’s denn hingehen?» – «Nach Canossa!», antworte ich. «Oha, das ist aber die falsche Richtung», sagt sie, und für einen kurzen Moment muss ich die Dame wohl so angesehen haben, als hätte sie gerade mein Urvertrauen zerstört. «Ist nur ein Scherz, junger Mann, immer geradeaus. Bewundernswert, was Sie da machen. Sie sollten den Wulff gleich mitnehmen. Viel Glück!»
    Ob sie ahnt, wie goldrichtig sie liegt? Auf gewisse Weise trage ich die Sünden von Christian Wulff tatsächlich nach Canossa, ich bin nämlich über viele Ecken mit unserem Rabatt-Präsidenten verwandt. Wir sind beide Osnabrücker, und sein Urgroßvater und meine Urgroßmutter, eine geborene Wulff, sollen Cousin und Cousine gewesen sein. Ich kann nicht behaupten, dass ich darauf stolz wäre. Ob ich Christian schon persönlich begegnet bin? Oh ja. Ich habe ihn mal an der Käsetheke bei Allfrisch getroffen, ich durfte ihn sogar mal interviewen, aber nie war der richtige Zeitpunkt, ihm von unseren zarten familiären Banden zu erzählen.
    Bei einer späteren Gelegenheit machte ich ihn wütend. Als Wulff noch Ministerpräsident von Niedersachsen war, erpresste er den Norddeutschen Rundfunk. Sein wunderschönes Bundesland, tönte er, sei im Programm völlig unterrepräsentiert. Und wenn sich das nicht bald ändere, wolle er dem NDR den Gebührenhahn zudrehen. Meine damalige Redaktion nahm ihn beim Wort und schickte mich quer durch Osnabrück, um die hässlichsten Ecken der Stadt zu dokumentieren. Ich filmte ein verwahrlostes Industriegebiet und eine heruntergekommene Mehrzweckhalle und machte episch lange Aufnahmen von trostlosen Bushaltestellen. Aus dem Material entstand eine wunderbare Serie: «Mehr Sendezeit für Niedersachsen». Dummerweise hat man sie nie gesendet. Warum? Das darf ich nicht verraten.
    Hinter Apensen beginnt das Flachland, in dem der Bauer bereits morgens weiß, wer abends zu Besuch kommt. Mir ist, als könnte ich Zeven schon jetzt am Horizont erkennen. Der Fußweg ist verschwunden, die Felder sind nass und lehmig, also laufe ich dem Verkehr auf dem Grünstreifen entgegen. So sehe ich wenigstens, wer mich überfährt. Manchmal kann ich parallel zur Straße durch ein Waldstück gehen, doch meistens bin ich den Traktoren, den Pick-ups und den VW-Kombis der Landjugend (silbermetallic, Sportsitze, Heckfenster getönt) schutzlos ausgeliefert.
    Wenn du etwas über die Bewohner eines Hauses erfahren willst, dann wühle in ihrem Abfall. Es ist wirklich bemerkenswert, was die Nordlichter so alles aus dem Autofenster werfen. Im schlammfarbenen Landstraßengras liegen Radkappen und zersplitterte Außenspiegel, Warnwesten und Bauarbeiterhelme, Thermoskannen und MC-Kassetten, benutzte Kondome, Analstöpsel (ich lüge nicht) und die Kauf-DVDs «Transi-Spektakel» und «Fuck-Girls: Chasing Pussy». Alle zwanzig Meter stolpere ich über blecherne Zigarilloschachteln, Dannemann Sweets. Noch viel häufiger entdecke ich leere Schnapsflaschen: Doppelkorn, Jägermeister, Kleiner Feigling, Chantré, Wodka Borisov und den mir bis dato unbekannten Kräuterlikör «Fläminger Jagd». Manchmal schimmern sogar Patronenhülsen im Boden. In Niedersachsen pflegt man alte Traditionen, hier schießt man noch auf Straßenschilder.
    An den dicksten Bäumen der Alleen stehen Holzkreuze. Manche sollen wohl nur Raser abschrecken, einige aber sind bunt bemalt und tragen Namen: Anna, Alisa, Sascha, Vivien. Der Wind hat die rostigen Laternen unter den Kreuzen umgeweht, modriges Laub bedeckt ein Engelchen aus Stein. Dieser Unfall war vor vier Jahren in allen norddeutschen Zeitungen: Anna, Alisa und Sascha fuhren nachts vom «Mic Mac» in Moisburg nach Hause und stießen frontal mit dem BMW einer Selbstmörderin zusammen. Die Motorblöcke beider Wagen sollen sich tief in die Fahrerkabinen gebohrt haben. Drei Tage später entzündete Vivien für ihre drei Freunde eine Trauerkerze an der Unfallstelle.
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