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Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)

Titel: Gang nach Canossa: Ein Mann, ein Ziel, ein Abenteuer (German Edition)
Autoren: Dennis Gastmann
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an.»
    «Zahlen bitte!»
    «Das macht dann 8,20.»
    «Dann machen Sie mal 9,20.»
    «Danke.»
    «Da nich für.»

    In der Nacht bekomme ich die Quittung für meinen Gewaltmarsch. Alle halbe Stunde wache ich auf. Mal ist die Bettdecke schweißnass, mal zittere ich wie ein Aal im Steinhuder Meer. Auch mein Zeh erholt sich nicht. Im Gegenteil: Am Morgen ist die Nacktschnecke wieder genauso prall wie am Abend zuvor. Ich wiederhole meine fragwürdige medizinische Notversorgung, umwickle den kleinen Onkel mit mehreren Pflastern und schnüre den rechten Schuh etwas lockerer als sonst. Dies ist die erste längere Wanderung meines Lebens, und natürlich rebelliert mein Schwabbelkörper. Von nun an halte ich die Etappen kürzer, maximal fünfundzwanzig Kilometer, und zwinge mich dazu, mindestens einmal pro Stunde zehn Minuten Pause zu machen. Dann hocke ich auf einem Stein an der Landstraße 133 oder auf einer Bank in Kirchtimke, Westertimke oder Tarmstedt und labe mich an Käsebroten, die ich am Frühstücksbuffet geklaut habe.
    Die Dörfer sind alle gleich hübsch und gleich tot. Aufgeräumte Gärten, akribisch geschnittener Rasen, Buchsbäume, Jägerzäune, Klinker, keine Menschenseele, keine Läden, null Infrastruktur. Das «Café und Bistro Muckefuck» macht Winterpause, auch «Wolfgangs Bierstube» und «… nach Fred» sind dicht. Es bleiben nur die Friseure, ein krisenfestes Gewerbe. In den Schaufenstern der Salons hängen die üblichen Modelfotos aus Hamburg und Berlin. Atemberaubende Frisuren, die Tante Trude aus Buxtehude niemals tragen würde. Die schönen, jungen Leute auf den Fotos sind in die Stadt gezogen, der Rest juckelt in auberginefarbenen VW Golf in den nächsten Lidl-Markt.
    Ich versuche, meine Schmerzen rauszulaufen. Das klappt ganz gut. Mit der Zeit habe ich meinen kleinen Zeh so platt getrampelt, dass ich ihn nicht mehr spüre. Doch an jedem Wandertag tauchen neue Zipperlein auf. Mal sind es die Knie, mal die Schienbeine, und als ich die Bremer Innenstadt erreiche, sticht es auf einmal in meiner linken Achillessehne. Bei jedem zehnten Schritt fühlt es sich an, als würde mir ein Dackel in die Ferse beißen. Ich probiere es noch eine Weile, aber dieser eklige Schmerz will ums Verrecken nicht verschwinden.
    Was nun? Ich suche etwas Liebe an einem vertrauten Ort und bestelle das Hamburger-Royal-TS-Sparmenü mit Cola und Kartoffelwedges bei McDonald’s in der Bahnhofstraße. Doch ein betrunkener Russe stört meinen Frieden. Er randaliert mit einer Halbliterdose Astra in der Hand vor dem Tresen, und zwei Angestellte versuchen vergeblich, ihn zu beruhigen. Witzigerweise kann ich jedes zweite Schimpfwort verstehen, dafür reicht eine Woche auf den Straßen Moskaus. «Bled!» heißt Nutte, und «Idi Nachuy!» bedeutet wörtlich übersetzt «Geh zum Schwanz!».
    Mir bleibt nur übrig, zum Zug zu gehen. Oder besser: zu humpeln. Sosehr ich es auch will, ich komme zu Fuß einfach nicht mehr weiter. Delmenhorst, mein Tagesziel, ist noch dreizehn Kilometer entfernt, und ich muss es noch heute erreichen – morgen bin ich in der Gegend verabredet. Schweren Herzens nehme ich den Regionalexpress 4414 Norddeich Mole, er soll für die Strecke nur neun Minuten brauchen, und die Fahrkarte kostet mich vier Euro.
    Allerdings können neun Minuten extrem lang sein. Es ist Freitagmittag, und das Großraumabteil ist voll belegt. Die üblichen Verdächtigen: Omis, Opis, Schulklassen, schreiende Kinder, überforderte Eltern. Auf den Klappstühlen vor den Toiletten starrt ein bärtiger Alki ins Leere und redet mit sich selbst. Um ihn herum liegen Netto-Tüten voller Leergut, seine alte Lederjacke ist speckig, und er hat sich augenscheinlich vollgepisst. Offenbar löst der Alkohol bei ihm eine Art Tourette-Syndrom aus. Immer wieder brüllt er «So ist das!» und «Du Scheißtyp!» und «Du Idiot!». Vier «Mädels» im gesetzten Alter stimmen in den Chor mit ein. Sie haben Prosecco dabei und Pappbecher und Würstchen und einen Ghettoblaster, und sie tanzen zu Shakataks «Down on the Street», 1984. Die Nervensägen wollen auf Norderney Junggesellinnenabschied feiern. «So ist das!», ruft der Alki.
    Mir gegenüber sitzen Zwillinge, identische Ringelpullis, identische Brillen, identischer Vollbart. Sie rollen sogar synchron mit den Augen. «Besoffene Idioten», tuschelt ein Mann links hinter mir, «Scheißweiber!», ruft ein Familienvater, der mich ein wenig an Johannes B. Kerner erinnert. Er hat einen rosafarbenen Pulli über die
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