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Furor

Furor

Titel: Furor
Autoren: Markus C. Schulte von Drach
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ist auf das Fahrstuhldach gestiegen. Beim Hinauffahren muss eine der Seitenstreben der Schachtwand seinen Schädel eingeschlagen haben.«
    Bevor Sebastian etwas sagen konnte, fuhr der Polizist fort.
    »Als heute Morgen eine Angestellte des Instituts den Fahrstuhl benutzen wollte, stand sie in einer Blutlache, die sich auf dem Boden der Kabine gebildet hatte.«
    »Das ist doch alles nicht wahr«, entfuhr es Sebastian. Den Schädel eingeschlagen auf dem Fahrstuhldach, das war doch absurd!
    »Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas anderes sagen.« Dietz sah ihn zum ersten Mal an.
    »Ich habe meinen Vater noch nie betrunken gesehen.« Sebastian hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. »Ein Abstinenzler ist er zwar nicht gewesen, aber er hat immer nur in Maßen getrunken.«
    Eine Droge mit Geschmack hatte es sein müssen, er trank nicht, um den Durst zu löschen, Alkohol war für ihn kein Konversations-Katalysator. Whiskey, irischer Whiskey, ein Glas oder zwei am Abend. Aber doch niemals eine ganze Flasche.
    »Wir müssen mit dem arbeiten, was wir an Hinweisen haben«, erklärte Dietz. »Können Sie sich vorstellen, was ihn in den Tod getrieben haben könnte?«
    Sebastian schüttelte den Kopf. Er hatte keine Ahnung. Selbst über den Tod seiner geliebten Frau vor einigen Jahren war sein Vater nach einer Weile ganz gut hinweggekommen, hatte bald zurückgefunden in seine Routine. Nichts Außergewöhnliches seither, soweit Sebastian wusste. Aus welchem Grund also hätte sein Vater seinem Leben jetzt ein Ende setzen sollen?
    »Könnte es mit seiner Arbeit zu tun gehabt haben?«
    Die Frage überraschte Sebastian völlig. Wie kam Dietz denn auf diese Idee? Der Gründer und Direktor des Wilder-Penfield-Instituts für Hirnphysiologie war voll und ganz in seiner Arbeit aufgegangen. Sie hatte für Christian Raabe das Leben bedeutet.
    »Nein, ausgeschlossen.«
    »Woran hat Ihr Vater eigentlich zuletzt gearbeitet?«
    »Keine Ahnung. Ich weiß natürlich, womit er sich grundsätzlich beschäftigt hat. Nach aktuellen Details müssen Sie seine Kollegen fragen.«
    »Ja, danke für den Tipp. Ich denke, das war es dann erst mal.« Als Dietz sich aus seinem Stuhl wuchtete, stand auch Sebastian auf.
    »Ich bringe Sie noch hinaus«, schnaufte der Dicke. »Ach ja, wir würden uns gern in der Wohnung Ihres Vaters umsehen. Reine Routine.«
    »Und wann soll das passieren?«
    »So bald wie möglich. Wir melden uns bei Ihnen.«
    Ihre Schritte hallten in den Gängen des Innenministeriums. An einer Biegung stieß Sebastian mit einer jungen Frau zusammen. Er entschuldigte sich, Dietz fasste ihn am Ellenbogen und zog ihn rasch weiter. Aus den Augenwinkeln sah Sebastian, dass die Frau ihnen überrascht nachblickte. Die muss ich ja wirklich erschreckt haben, dachte er.
    Am Ausgang reichte Dietz ihm die Hand und gab ihm seine Karte. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann melden Sie sich, ja?«
    »Natürlich. Und halten Sie mich auf dem Laufenden.«
    Hirntod. Natürlich hatte sich Sebastian im Verlauf seines Medizinstudiums mit diesem Thema beschäftigt, zumal er an einem der führenden Institute auf dem Gebiet der Hirnforschung studierte. Im allgemeinen Sprachgebrauch unterschied man Tod und Hirntod. Die meisten Naturwissenschaftler aber setzten den Hirntod mit dem Tod gleich: Tot war der Mensch nach ihrer Definition, wenn Hirnfunktion, Atmung und Kreislauf künstlich aufrechterhalten werden mussten.
    Doch da der Körper eines hirntoten Menschen auf Berührungenoder Geräusche durchaus reagieren konnte, waren Laien oft verwirrt und verwechselten diese Reflexe mit Lebenszeichen. Aber was war denn Leben überhaupt? Ein funktionierendes System? Auch ein Auto war ein funktionierendes System. Ein funktionierendes organisches System also? Da kam man der Sache wohl schon näher. Aber was bedeutete »funktionieren«? Ein Mensch mit schweren Hirndefekten lebte, wenn die Störungen nicht zum Zusammenbruch von Atmung und Herz-Kreislauf führten. Ein Mensch mit einer Störung der Atemregulation zum Beispiel lebte, auch wenn seine Atmung durch elektrische Geräte kontrolliert ausgelöst werden musste.
    Letztlich war es wohl eine philosophische Frage, die Sebastian inzwischen zumindest für sich beantwortet hatte: Wenn es keine Hirnströme mehr gab, dann war der Geist tot. Die Persönlichkeit, die den Menschen ausgemacht hatte, war nicht mehr vorhanden. Das Leben war vorüber, wenn die geistige Existenz ausgelöscht war. Sebastian war sich völlig sicher, dass sein
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