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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
Autoren: April Genevieve Tucholke
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später so laut schnarchte, dass ich ihn bis nach oben hören konnte. Ich sehnte mich nach den Lachfältchen um seine Augen und seiner hohen Stirn.
    Aber das war nichts im Vergleich zu der Heftigkeit, mit der ich mich nach Freddie sehnte. Freddie, die im Gegensatz zu meinen Eltern, immer da gewesen war. Bis sie starb. Ich sehnte mich nach ihren gewellten weißblonden Haaren, die sie seit den 1930er-Jahren zu einem Bob geschnitten trug. Ich sehnte mich nach der Baskenmütze, die sie sogar im heißesten Sommer angehabt hatte, und nach dem Geruch ihrer Kleider, die manchmal nach Zitronen und manchmal nach teurem französischen Parfum geduftet hatten. Und ich sehnte mich nach ihrer weichen Haut und ihrem Pfirsichteint, in den sich nie auch nur eine einzige Falte gegraben hatte. Solche Frauen gibt es nämlich wirklich – ihre Gesichter bleiben jung, ihre Augen strahlen, egal wie alt sie werden. Ich wollte wie Freddie aussehen, wenn ich eines Tages selbst alt wurde.
    Luke, der neben mir stand, begann nervös zu werden, also verbannte ich die traurigen und sehnsuchtsvollen Gedanken an Freddie aus meinem Kopf und sah River an. »Ja, genau. Das ist mein Bruder. Und das da ist Sunshine, sie wohnt in dem Haus am Ende der Straße.«
    River schüttelte Luke die Hand. Mir fiel auf, dass mein Bruder ihn um einige Zentimeter überragte, was mich überraschte, weil ich River größer in Erinnerung gehabt hatte.
    Größer? Plötzlich fiel mir wieder ein, dass ich bei seinem Anblick vorhin eher gedacht hatte, er wäre klein oder jedenfalls nur durchschnittlich groß. Erstaunlich. In nur einer Stunde war er in meiner Vorstellung einfach so um dreißig Zentimeter gewachsen.
    Sunshine musterte River eingehend, warf mir dann über die Schulter einen verstohlenen Blick zu und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ich ignorierte sie und richtete meine Aufmerksamkeit auf Luke. Mädchen gegenüber verhielt sich mein Bruder eigentlich immer gleich, aber wenn er einen anderen Jungen kennenlernte, gab er sich ihm gegenüber entweder herablassend und ablehnend oder er vergötterte ihn mit all der aufgestauten Leidenschaft, zu der ein praktisch vaterloser Junge in der Lage war.
    »River. Freut mich, dass du Violets Zettel entdeckt hast.« Luke kratzte sich betont lässig am Ellbogen. »Cool, nicht mehr der einzige Mann im Haus zu sein. Bisher musste ich mich den Sommer über immer allein mit den beiden hier herumschlagen.« Er deutete mit dem Kinn auf Sunshine und mich. »Ich brauche jemanden, der in der Lage ist, Whiskey zu trinken, ohne sich bei jedem Schluck zu schütteln, und der mir beim Gewichtheben hilft. Stemmst du auch?«
    In Rivers Fall war es also Vergötterung.
    River lächelte, antwortete aber nicht.
    »Wir wollten runter in die Stadt, einkaufen gehen. Kommst du mit?« Sunshine schob sich vor Luke, warf ihre Mähne zurück und schien auf einmal die komplette Küche als Bühne für sich zu beanspruchen.
    »Klar«, sagte River. »Ich hab gerade den Kühlschrank angeschlossen, fehlt also nur noch der Inhalt. Infolgedessen komme ich gern mit.« Er zwinkerte mir zu.
    Ich musste lächeln, worauf er ebenfalls lächelte. Dann drehte ich mich hastig um, weil ich spürte, wie ich schon wieder rot wurde, und lief ins Haupthaus, um ein paar Jutebeutel zum Einkaufen zu holen. Kurz darauf schlenderten wir zu viert auf die Apfelbäume zu. Der Wind wirbelte die weißen Blüten durch die Luft und ein paar von ihnen landeten auf Rivers Schulter. Er ließ sie dort liegen, ohne sie abzuklopfen, was mir gefiel. Ein paar Minuten später erreichten wir die Schotterstraße und gingen auf die Stadt zu.
    Luke löcherte River mit Fragen – woher er kam, was für Hobbys er hatte –, aber River schaffte es faszinierenderweise, all den Fragen auszuweichen, indem er viel redete und doch kaum etwas sagte, was allerdings gar nicht auffiel, wenn man nicht darauf achtete. Mir fiel es aber auf und ich war beeindruckt.
    Sunshine schlenderte neben mir her und schien nur noch aus langen Haaren und üppigen Kurven zu bestehen, rundum glücklich, gleich zwei hübsche Jungs zu haben, mit denen sie flirten konnte. Ich atmete den Duft nach Erde, Blättern und Wald ein und war ebenfalls ziemlich gut gelaunt.
    Nach ungefähr achthundert Metern stießen wir auf den alten, zwischen dem Grün der Bäume etwas versteckt liegenden Eisenbahntunnel, durch den schon seit Jahren keine Züge mehr hindurchfuhren, weil er irgendwo tief im Inneren eingestürzt war. Die Gleise waren
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