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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer
Autoren: April Genevieve Tucholke
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war, den Zug nicht hatte kommen hören, von ihm erfasst und den Hang hinuntergeschleudert worden war. Wie sollte es sonst gewesen sein?
    Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, dass vielleicht etwas unternommen werden würde. Dass aufgebrachte Bürger die Polizei und die Stadtverwaltung drängen würden, herauszufinden, was hinter all den Merkwürdigkeiten steckte. Dass die Menschen das Bedürfnis haben würden, zu verstehen, was es mit diesem seltsamen Sommer in Echo auf sich hatte, in dem Kinder mit Pflöcken auf dem Friedhof herumgestreunt waren und den Teufel gesucht hatten, Mädchen mit Baseballschlägern angegriffen und Jungs tot neben den Gleisen gefunden wurden.
    Aber es geschah nichts. Die Leute lebten ihr Leben einfach weiter, genau wie Sunshine.
    Obwohl ich manchmal den Eindruck hatte, dass Sunshine seit der Sache mit Brodie vielleicht doch nicht mehr ganz dieselbe war. Da war etwas in ihren Augen, das ich vorher nie gesehen hatte. Sie saß auch nicht mehr so oft auf der Veranda, trank Eistee und starrte Löcher in die Luft. Sie begann, Bücher über die Natur und das Überleben in der Wildnis zu lesen, und fragte mich einmal, ob ich Lust hätte, mir ihr zelten zu gehen. Nur sie und ich. Klar , sagte ich. Warum nicht? Und ein anderes Mal schwamm sie im Meer, als ich zum Lesen an unseren Geheimplatz kam. Ich sah sie in ihrem engen weißen Badeanzug allein zwischen den Wellen und fragte mich, ob sie auf etwas zu- oder vor etwas davonschwamm. Vielleicht beides.
    Ich mochte die neue Sunshine. Luke ging es genauso. Aber ich glaube, wir vermissten beide auch die von früher.
    Ein paar Wochen später schaute ich zu, wie River seinen alten Lederkoffer packte. Ich hatte gerade das letzte Pflaster von meinen Handgelenken abgezogen, unter dem die Narben rot und noch ein bisschen geschwollen waren. Ich hasste sie. Ich rieb über die juckenden Wülste, während River seine letzten Sachen in den zweiten Koffer warf, den Deckel zuklappte und die vier Verschlüsse einschnappen ließ. Bei jedem metallischen Klicken zuckte ich zusammen. Das Geräusch hatte etwas so Endgültiges.
    Schließlich stand River mit den beiden gepackten Koffern vor mir und sah genauso aus wie bei unserer ersten Begegnung. Nur die noch nicht ganz verheilte Bisswunde an seinem Unterarm war neu. Und der Ausdruck in seinen Augen.
    Er war nicht mehr nur spöttisch, selbstbewusst, gleichgültig und gleichzeitig wachsam – es war etwas Neues hinzugekommen. Und ich fragte mich, ob das womöglich etwas mit mir zu tun hatte.
    Ich hoffte es.
    Es heißt, Zeit wäre relativ, und ich glaube, das ist der Grund, warum es mir so vorkommt, als hätte sich mein Leben vor Rivers Auftauchen innerhalb von wenigen Sekunden abgespielt – ein kurzes Aufflackern kleiner Ereignisse, nicht wirklich der Rede wert –, während mir mein Leben von dem Tag an, in dem River vor Citizen Kane vorfuhr, wie eine dreibändige Saga erscheint. Wie ein Epos. Mit kaum zu bewältigenden Herausforderungen, Bösewichten, Mördern, einem unbefriedigenden Ende und Menschen, die sich fanden und dann für immer auseinandergerissen wurden.
    »Soll ich uns noch einen Kaffee machen?«, fragte River.
    Aber was er wirklich meinte, war: Soll ich uns noch einen Kaffee machen, bevor ich meine Koffer nehme, in meinen Wagen steige und für immer davonfahre?
    »Ja«, antwortete ich.
    Also kochte er uns einen letzten Espresso und wir nippten das heiße Getränk in der Küche des Gästehauses neben dem Spülbecken stehend.
    Ich sah ihn von der Seite an, während er trank und dabei die Augen leicht zusammenkniff. Er hatte nichts Geheimnisvolles oder Exotisches mehr an sich. Er sah einfach nur wie River aus.
    Und das genügte.
    »Du siehst einfach nur wie River aus«, sagte ich.
    River, der seine Tasse gerade noch einmal zum Mund führte, hielt in der Bewegung inne und sah mich an. »Das ist gut«, sagte er lächelnd, aber mit einem ernsten Ausdruck in den Augen, »weil ich nämlich einfach nur River bin.«
    Dann griff River West William Redding III nach seinen Koffern, und ich folgte ihm nach draußen, wo Neely, Luke und Jack schon auf uns warteten. Zu viert standen wir im Halbkreis um Rivers schicken alten Wagen herum, auf dessen Polstern immer noch Blutflecken waren.
    River sah Neely an. »Du weißt, warum ich es tun muss, oder?«
    Neely lachte. »Aber sicher doch. Fahr los und krieg dein Funkeln in den Griff, damit wir Brodie aufspüren und die Scheiße aus ihm herausprügeln können. Falls er überhaupt
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