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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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in Versen. Deren Bedeutung für die russische Sprache und Literatur sei, meinen übereinstimmend alle, die etwas davon verstehen, nicht zu überschätzen. Denn er sei der eigentliche Schöpfer sowohl dieser Sprache als auch dieser Literatur.
    Im Westen sind die Versdichtungen Puschkins nicht unbekannt, denn sie liegen den wichtigsten russischen Opern zugrunde. Die Oper Ruslan und Ljudmila von Michail Iwanowitsch Glinka folgt der Märchenerzählung von Puschkin, das Libretto zum Boris Godunow hat der Komponist Modest Petrowitsch
Mussorgski nach einer Tragödie von Puschkin geschrieben. Die beiden berühmtesten Opern von Pjotr Iljitsch Tschaikowski gehen auf Puschkin zurück: auf die Erzählung Pique Dame und auf den Versroman Eugen Onegin .
    Kurz und gut: Ohne Kenntnis der russischen Sprache kann man Puschkins Größe überhaupt nicht beurteilen. Haben wir mit anderen Literaturen diesen Kummer nicht? O doch, auch bei den Franzosen ist es etwas ähnlich: Die Welt kennt die Romane von Stendhal, Honoré de Balzac und Gustave Flaubert, aber in viel geringerem Maße die Werke der Poeten Jean Racine und Pierre Corneille. Freilich ist die Zahl der deutschen Leser, die des Französischen mächtig sind, ungleich größer als jener, die mit dem Russischen zurande kommen.
    Was soll man nun in dieser Situation mit Puschkin machen? Man muss nicht ganz auf ihn verzichten. Man kann sich mit seinen letztlich doch weniger bedeutenden Prosawerken begnügen, etwa mit dem späten historischen Roman Die Hauptmannstochter oder auch mit der Erzählung Der Postmeister , die beide auf die russische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts einen starken Einfluss hatten.

    Wie wichtig ist die Biographie eines Schriftstellers für das Verständnis seines Werks? Wie wichtig ist diese Kenntnis für den Kritiker? Und warum lesen die Menschen so gern Tagebücher von Dichtern?
    Alle ernsten Schriftsteller, vor allem die Romanciers, profitieren von ihrer Biographie.Wer sich gründlich mit einem Roman beschäftigt, wird die Biographie des Autors nicht aussparen. Die Kenntnis des Umfelds eines Schriftstellers und seines Lebenslaufs ist beinahe immer nützlich, allerdings nicht unbedingt notwendig. Schließlich muss jeder Leser selbst entscheiden, womit er seine Lektüre ergänzt. Auch ein Lexikon ist in vielen Fällen keineswegs überflüssig.
    Dass viele Menschen gern die Tagebücher eines Dichters lesen, hat einen einfachen Grund: Sie bieten über den Autor und seine Welt sehr viel, was sich in seinen Romanen oder Erzählungen eben nicht finden lässt.Viele Leser können sich von den Tagebüchern Thomas Manns nicht losreißen. Thomas Mann habe auch sehr viel Belangloses notiert? Das stimmt schon. Aber viele seiner Leser – auch ich – nehmen das in Kauf und sind ihm für seine Tagebücher sehr dankbar.

    Welchen Stellenwert weisen Sie dem literarischen Werk von Stefan Zweig zu, zumal seinen erzählerischen Arbeiten?
    Offensichtlich interessieren Stefan Zweigs erfolgreiche Novellen unsere Leser am meisten. Daher werde ich vor allem auf sie eingehen:
    Der Held der meisten Novellen Zweigs ist ein Mensch, dessen Psyche ganz normal zu sein scheint. Doch irgendein Ereignis – häufig ist es eine unerwartete Begegnung – macht einen bisher verborgenen Komplex dieses Menschen sichtbar, einen Komplex, dessen Entladung die seelische Deformation dieses Helden zum Vorschein kommen lässt.
    In vielen Novellen Zweigs handelt es sich eindeutig um einen erotischen Komplex – so im Amokläufer , der Geschichte eines Arztes, der nach einer Unterschlagung nach Indochina flieht, wo er in den Bann einer hochmütigen Frau gerät. Diesen Arzt lässt Zweig sagen: »Rätselhafte psychologische Dinge haben über mich eine geradezu beunruhigende Macht, es reizt mich bis ins Blut, Zusammenhänge aufzuspüren, und sonderbare Menschen können mich durch ihre bloße Gegenwart zu einer Leidenschaft des Erkennenwollens entzünden,
die nicht viel geringer ist als jene des Besitzenwollens bei einer Frau.« Das sagt eine Figur, gewiss, aber es kann keinen Zweifel geben, dass wir es mit einer Selbstcharakterisierung Zweigs zu tun haben.
    In der Novelle Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau wird der erotische Wahn am Beispiel einer vornehmen Dame gezeigt, die auch eine vorbildliche Mutter ist. Im Brief einer Unbekannten ist es die Geschichte einer Frau, die seit ihrer frühesten Jugend einen Nachbarn, einen bekannten Schriftsteller, liebt. Diese Liebe führt zu einem
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