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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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sehr unglücklich. Wie paradox es auch klingen mag: Das Wichtigste in seinen Dialogen sind die Pausen, das Fundament seiner Stücke ist das Schweigen. Denn Tschechow zeigt den Menschen, der in seiner Qual verstummt. Einige Satzfetzen
genügen ihm, um eine Intensität der lyrischen Stimmung zu zaubern, die das Theater vor ihm nicht kannte. Die Kunst, alles, was er wollte, mit wenigen Details und unaufdringlichen Streiflichtern zu zeigen, hat er vollendet beherrscht. Man hat ihn nicht sofort begriffen: Eines seiner besten Stücke, Die Möwe , wurde bei der Petersburger Uraufführung (1896) ausgepfiffen und erst zwei Jahre später stürmisch gefeiert.
    Wären Tschechows Dramen nicht mehr als realistische Gesellschaftskritik, sie würden heute wohl nur noch die Fachleute interessieren. Doch diese Szenen aus dem Russland gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wachsen immer wieder ins Zeitlose, sie werden zu Sinnbildern des menschlichen Daseins. In den Drei Schwestern sehen wir die russische Provinz des Elends und gleichzeitig das Elend der Provinz schlechthin: Denn in der Sehnsucht der Schwestern nach Moskau spiegelt sich nichts anderes als die Sehnsucht des Menschen nach einem besseren Leben.

    Welche Bücher von Klaus Mann sind heute noch lesenswert?
    Von seinen Romanen hat mich am meisten Mephisto interessiert. Das hat mit seinem Thema zu tun: Es ist ein böses, ein gehässiges, ein streckenweise auch sehr ungerechtes Buch über einen der größten Schauspieler, die ich in meinem Leben auf der Bühne gesehen habe – über Klaus Manns Schwager Gustaf Gründgens. Und zugleich ist es ein aufschlussreiches Buch über das Kulturleben in den letzten Jahren der Weimarer Republik und in den ersten Jahren des Dritten Reichs.
    Doch interessanter als das künstlerische Werk Klaus Manns ist, glaube ich, sein ungewöhnliches Leben. Deshalb ist sein vielleicht wichtigstes Buch die Autobiographie: Der Wendepunkt . Was war denn an diesem Leben so interessant, ja faszinierend? In meinem Essay über Klaus Mann ( Schwerpunkt und Schminke ) in dem Buch Thomas Mann und die Seinen schrieb ich: »Er war homosexuell. Er war süchtig. Er war der Sohn Thomas Manns. Also war er dreifach geschlagen. Woran hat er am meisten gelitten? Eine solche Frage kann man nie schlüssig beantworten; aber sie lässt
sich hier auch nicht umgehen. Denn sie ist es wahrscheinlich, die in das Zentrum dieser glanzvollen und traurigen, dieser dreifach glücklichen und erst recht dreifach elenden Existenz trifft.
    Leid und Glück waren im Leben Klaus Manns untrennbar miteinander verquickt. Noch in seinen trostlosesten Monaten und Wochen schrieb er Briefe voll Frohsinn und Glückseligkeit. Und noch in seinen beschwingten und jubelnden Briefen bilden drohende Akkorde ein düsteres, ein acherontisches Ostinato. Ein Sonntagskind war er. Aber das unglücklichste, das man sich denken kann. Er liebte das Dasein, fieberhaft wollte er es genießen. Und doch war er von Anfang an ein Selbstmordkandidat. Kein Weltkind war je vom Tode stärker fasziniert als er.«

    Kürzlich haben Sie sich über Friedrich Dürrenmatt geäußert. Es fällt mir aber auf, dass in Ihrer vorzüglichen Antwort ein Name unerwähnt bleibt: Bertolt Brecht. Darf ich Sie um eine Ergänzung bitten?
    Friedrich Dürrenmatt passte in keinen Rahmen, jedenfalls nicht in einen deutschen. Bertolt Brecht war für die literarische Öffentlichkeit in diesem Lande ungleich leichter hinzunehmen und zu deuten als Friedrich Dürrenmatt. Denn der an die Erziehbarkeit des Menschen glaubende und die Veränderbarkeit der Verhältnisse verkündende Poet, der in seinen späten Jahren in Ost-Berlin lebte, ließ sich ohne größere Schwierigkeiten in der vertrauten Tradition unterbringen, also in der Nachfolge von Lessing, von Goethe und Schiller, Grillparzer und Hebbel.
    In ihm, dem Dichter mit der Schiebermütze, sah man einen, der es auch in unserer Zeit fertiggebracht hatte, aus der Schaubühne eine moralische Anstalt zu machen und obendrein eine mit Gesang, Musik und Humor. Nur war er – so meinten viele – bedauerlicherweise auf die falsche (politische) Seite geraten.

    Brecht glaubte an den Klassenkampf, an die Revolution. Jedenfalls behauptete er dies. Dürrenmatt hielt die Bekenntnisse der Revolutionäre für »außer Kurs gesetzt«, sie seien höchstens für die Menge brauchbar – als Schlagworte. Er glaubte an nichts. Zumindest gab er es vor. Brecht offerierte Lösungen. Dürrenmatt machte die Lächerlichkeit
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