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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Dichterin, die man die Bänkelsängerin der Moderne nannte.

    Welche Bedeutung messen Sie den ausführlichen Landschafts- und Naturbeschreibungen Theodor Fontanes und anderer großer Schriftsteller bei? Sind Natur und Umwelt überhaupt ernst zu nehmende Themen der Literatur?
    In Theodor Fontanes Romanen gibt es interessante und wichtige Naturbeschreibungen, doch gehören sie, glaube ich, nicht zu den wichtigsten Elementen dieser Romane. Die Frage, ob es sich um ernst zu nehmende Themen der Literatur handelt, verblüfft mich. Hier meine Antwort: Ja, mit Sicherheit.
    Allerdings gibt es ein Thema, das ungleich bedeutender ist als alle Darstellungen von Bergen und Tälern, von Blumen, Bäumen und Büschen, von Flüssen und Seen, als alle Landschafts- und Naturbeschreibungen. Dieses Thema, das seit Jahrtausenden im Mittelpunkt der Weltliteratur steht, ist der Mensch, das menschliche Elend und die menschlichen Gebrechen.
    Übrigens sei noch rasch darauf hingewiesen, dass, wenn große Dichter von Blumen sprechen, sie beinahe immer anderes und ungleich mehr als Blumen meinen. Da beginnt
ein deutsches Gedicht: »Sah ein Knab’ ein Röslein stehn.« Ist das ein Naturgedicht, das von einer Blume, jung und morgenschön, erzählt? Oder sind es vielleicht Verse über die Vergewaltigung eines Mädchens?

    Können Sie uns etwas über Anton Pawlowitsch Tschechow erzählen?
    Anton Tschechow war kein Besessener wie Fjodor Dostojewski, kein Prediger wie Leo Tolstoi. Sein Leben, das 1860 begann und schon 1904 beendet war, mutet prosaisch an. Auch in seiner Jugend war er weder ein Ketzer noch ein Rebell, weder ein Stürmer noch ein Dränger. Um ein paar Rubel zu verdienen, arbeitete er als Neunzehnjähriger für eine Provinzzeitung: Von da an finanzierte er das Studium der Medizin als Witzblattlieferant. Seine Schreiberei nahm er nicht ernst, glaubte nicht an sein Talent.
    Als typisches Kind seiner Zeit glaubte Tschechow, es seien die Naturwissenschaften, die den Fortschritt bewirken könnten. Daher blieb auch der längst anerkannte und gerühmte Schriftsteller seinem bürgerlichen Beruf treu: Er praktizierte weiterhin als Landarzt, wodurch er seine Gesundheit ruinierte. Kurz vor seinem Tod sagte er: »Alles, was ich geschrieben habe, wird in wenigen Jahren vergessen sein.« Inzwischen sind seine Bücher in rund achtzig Sprachen in einer Auflage von sechzig oder siebzig Millionen erschienen. Er
ist nach Shakespeare der meistgespielte Dramatiker der Weltliteratur.
    Im Mittelpunkt von Tschechows Theaterstücken und Novellen stehen durchschnittliche Individuen mit alltäglichen Sorgen. Und alle sind vom Leben enttäuscht, unglücklich und resigniert. Er war oft zu diskret, um die wahren Ursachen ihrer Tragödien in hellem Licht zu zeigen – er ließ sie nur ahnen, er deutete sie behutsam an.Was wichtig ist, steht bei Tschechow zwischen den Zeilen. Alles, was er geschrieben hat, umspielen Schatten tiefer Schwermut.
    War Gogol in seinen besten Jahren ein Ankläger der Gesellschaft, so Tolstoi ihr Richter, sah Dostojewski in sich selbst den Angeklagten, so wollte Tschechow nur ein aufmerksamer und verständnisvoller Zeuge sein. Aus seinem Werk ergibt sich kein System, keine Philosophie. Er könne der Welt – meinte Tschechow – »nicht die Spur einer rettenden Wahrheit in die Hand geben«. Aber vielleicht sind seine Geschichten und Stücke so frisch geblieben, weil er nicht die Lösung der großen Probleme Russlands, nicht die Therapie der sozialen Zustände für seine schriftstellerische Aufgabe hielt, sondern die schlichte Fragestellung, die klare Diagnose.

    Die Kürze, meinte er, sei die Schwester des Talents. Seine auf der ganzen Welt nachgeahmten und bis heute nicht übertroffenen Kurzgeschichten sind statische und vollendete Momentaufnahmen. Die Entwicklung eines Menschen zu zeichnen war allerdings seine Sache nicht, ein überzeugender Roman ist ihm nie gelungen.
    Freimütig bekannte er: »Ich habe eine Abneigung gegen die Poesie.« Dennoch schrieb er die zartesten, die poetischsten Prosadramen der russischen Literatur. Es sind, so will es scheinen, antitheatralische Milieustudien. Einen Helden im Mittelpunkt gibt es bei Tschechow nicht, einen dramatischen Konflikt ebenfalls nicht – und es gibt in der Regel fast keine Handlung.
    Nicht ihre Taten charakterisieren die Menschen, sondern ihre Untätigkeit. Sie reden miteinander, sie trinken Tee, sie lauschen dem Summen des Samowars, sie langweilen sich, und sie sind, versteht sich,
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