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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Werk als Abiturstoff verwendet wird, ist sehr erfreulich – und so sollte es bleiben. Sollte man es neu interpretieren? Jawohl, alle bedeutenden Werke der Literatur sollten von Zeit zu Zeit neu interpretiert werden.

    Lassen sich nicht ähnliche, wenn auch ideologisch anders eingefärbte Argumente gegen Bertolt Brecht und sein Werk anführen wie gegen Ernst Jünger? Und wer liest noch mit feurigen Augen Brecht?
    Nein, ich glaube nicht, dass man Bertolt Brecht mit Ernst Jünger vergleichen sollte. Man sollte zunächst einmal den Unterschied zwischen dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus begreifen. Dass Brecht heute noch mit »feurigen Augen« gelesen wird, dessen bin ich ganz sicher. Er ist, glaube ich, der größte deutsche Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts.
    Gelegentlich versucht man, Rainer Maria Rilke gegen Brecht auszuspielen. Das ist in der Tat nur ein Spiel – und ein überflüssiges obendrein. Ich vermeide es zu sagen, was von der deutschen Literatur des vorigen Jahrhunderts bleiben wird. Aber eine Ausnahme scheint mir doch zulässig. Und es gibt nur eine Ausnahme: eben Brecht.

    Ich bin ein Freund Phantastischer Literatur, und am liebsten lese ich Bücher von Jules Verne. Was halten Sie von Verne?
    Im Alter von elf, zwölf Jahren habe ich einige Bücher von Jules Verne gelesen. Dann habe ich aufgehört, sie zu lesen, und bin nie zu ihnen zurückgekehrt. Ist mir viel entgangen? Jedenfalls habe ich Verständnis für Sie, der Sie Verne treu geblieben sind. Die Beschäftigung mit Literatur ist – unter anderem – eine gute Schule der Toleranz.

5
    Eine Rose ist nicht nur eine Rose
    Fragen zu Wissenswertem quer durch die Weltliteratur

    In den siebziger Jahren haben Sie Wolf Wondratschek als einen der begabtesten jungen deutschen Lyriker gelobt. Halten Sie an dieser Einschätzung fest?
    Ich habe schon in den sechziger Jahren auf Wolf Wondratschek lobend hingewiesen. Als er 1969 mit einem kleinen Prosaband debütierte, schrieb ich in der Zeit den schlichten Satz: »Dieser Autor gefällt mir.« Bedauert habe ich das nie, doch oft ist mir der Wondratschek, mit Verlaub, auf die Nerven gegangen, vor allem mit seinen Lieblingsthemen (Nutten und Bordelle). Er hat mich bisweilen geärgert, gleichwohl schätze ich ihn nach wie vor.
    Man muss ihm viel vergeben, denn wir verdanken ihm eine Anzahl schöner, mit den Jahren gar nicht verwelkter Gedichte. Er wurde zum Sprecher der 68er-Generation. Nur: Diejenigen, die damals ihre Hoffnungen an die Studentengeneration knüpften, stehen in seinen Versen – und darauf kommt es an – für alle Geprellten, Gestrandeten und Gescheiterten, für die Enttäuschten und Betrogenen. Nicht die Liebe besingt er, sondern die Sehnsucht, den Hunger nach Liebe. Er ist ein Poet des stillen Leids der kleinen
Leute, der verpassten Chancen und der großen Vergeblichkeit.
    Als ich mich einmal mit dem unvergesslichen Publizisten Sebastian Haffner über zeitgenössische deutsche Lyrik unterhielt und Wondratschek lobte, fragte er mich misstrauisch: Schreibt er moderne Gedichte oder richtige Gedichte? Er wird von seinen Anhängern gern und schon lange als Rock-Poet bezeichnet und als Autor von Pop-Texten gepriesen. Er hat ein wenig von Kurt Tucholsky und Walter Mehring gelernt, von Erich Kästner und Bertolt Brecht. Doch wie groß seine bewussten und unbewussten Anleihen auch sein mögen – den ihm bisweilen nachgerühmten »Wondratschek-Sound« gibt es tatsächlich. So ist das nämlich: Man wird nicht Kultautor ohne Grund. Als ich Haffner ein besonders schönes Gedicht Wondratscheks vorlas, nickte er zustimmend und sagte beinahe gerührt: »Wer hätte gedacht, dass ein solcher Autor ein solches Sonett schreiben kann.« Er ist, sagte ich Haffner, ein moderner und dennoch ein richtiger Poet.

    Sie behaupten ständig, dass Bertolt Brecht überhaupt kein politischer Mensch gewesen sei. Wie definieren Sie »ein politischer Dichter«?
    Der Begriff »ein politischer Dichter« ist nicht schwer zu definieren. Gemeint ist ein Autor, der sich vor allem für Politik interessiert und über Politik schreibt. Aber ich habe nie gesagt, Brecht sei »überhaupt kein politischer Mensch« gewesen, noch habe ich dies »ständig« wiederholt. Doch ist mir das entstellte Zitat willkommen, weil ich bei dieser Gelegenheit auf einiges über Brecht hinweisen kann.
    Er stelle sich oft ein Tribunal vor – sagte Brecht in einem Gespräch -, dem er die Frage beantworten müsse, ob es ihm »eigentlich ernst« sei:
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