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Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick
Autoren: Martin Clauß
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    Es gab einen Moment, da verstand Sonja, was Freddy war.
    Und genau in diesem Moment spürte sie, dass keiner der anderen es je begreifen würde. Man konnte Freddy beschreiben, man konnte ihn malen, so wie er nach außen hin aussah, konnte ihn fotografieren. Tatsächlich hatte Sonja ihn viele Male gezeichnet, als kleines Kind schon, und später, als sie das Zeichnen aufgab, wie die meisten Menschen es irgendwann einmal tun (viel früh als das In-der-Nase-Bohren), hatte sie mit ihrer Leica M4 noch Fotos von ihm gemacht. Aber es gab keinen Weg, ihn so wiederzugeben, wie er wirklich war.
    Freddy war kein Schutzengel, auch wenn er sich manchmal so benahm. Er war kein Freund, auch wenn er natürlich freundschaftliche Gefühle für sie hegte und umgekehrt. Freddy war kein Mitglied der Familie, das hatte sie immer gespürt.
    Und es war gut, dass er all das nicht war. Sehr gut.
    Natürlich war Freddy auch kein Haustier.
    Er war bei ihr gewesen, als Papa mit der Diagnose in der Tür stand, mit dem großen weißen Briefumschlag, der ihm zweimal aus der Hand fiel, während er Mama und Sonja zu erklären versuchte, was sich hinter dem Begriff Creutzfeld-Jakob-Krankheit verbarg. Papa sprach von einer enorm seltenen Erkrankung, die das Gehirn angriff und in etwa sechs Monaten zum Tod führen würde. Bis es soweit war, würde er unter einer Vielzahl psychischer und motorischer Störungen leiden. Die Krankheit würde rasch voranschreiten. Papa erzählte und erzählte, immer wieder dasselbe, und er hörte erst auf, als dunkle Rauchschwaden aus der Küche in den Flur quollen. Mama hatte das Gemüse anbrennen lassen.
    Als dies geschah, zählte Sonja erst vier Jahre, und Freddy wich tags wie nachts kaum von ihrer Seite. In dieser Zeit war Sonja fest davon überzeugt, dass Freddy ihren Papa heilen konnte, wenn er sich richtig anstrengte und wenn sie es sich nur fest genug wünschte. Tatsächlich war die Voraussage des Arztes allzu pessimistisch ausgefallen, wie so oft, wenn Mediziner sich davor fürchten, ihren Patienten zu große Hoffnungen zu machen, und Papa lebte nach der Diagnose noch volle zwei Jahre. Im zweiten Jahr wünschte sie sich manchmal, er würde rasch sterben, wenn er schon nicht gesund werden konnte, aber Freddy gegenüber erwähnte sie nichts davon. Sie hatte Angst, er könne ihren Wunsch wahrmachen.
    Vielleicht hätte sie Papas nahendes Ende besser verkraften können, wenn er unter einer anderen Krankheit gelitten hätte. Der seltsame Name Creutzfeld-Jakob wurde für Sonja binnen weniger Tage zu einem Synonym für „Hölle auf Erden“. War Papa wegen eines leichten Schwindelgefühls und Unkonzentriertheit zum Arzt gegangen, baute er schon in den folgenden Wochen rapide ab. An Arbeit war nicht mehr zu denken. Im Gegenteil: Nun war er es, der Arbeit machte. Trotz zunehmender Gleichgewichtsstörungen lief er unruhig durchs Haus, vergaß Ziel und Zweck seiner Bewegungen, stürzte häufig und blieb dann liegen, ohne um Hilfe zu rufen, starrte nur mit leerem Blick ins Nichts. Es gab eine Phase, da weinte er viel (was Sonja am meisten mitnahm), andere, da stammelte er zusammenhangloses Zeug.
    Mama wurde überhaupt nicht mit der Situation fertig. Sie trank immer mehr, und wenn sie wieder einmal nach Gin stank und diesen merkwürdigen Blick in den Augen hatte, als wäre die Welt nichts als ein Stück Dreck, sagte sie mit lallender Stimme: „Ich mach’s mir ‘n biss‘en gemü‘lich, Schatz, nur ‘n biss‘en gemü‘lich.“
    In eine solche Situation hinein bemerkte einmal Onkel Werner, Mamas jüngster Bruder, der sie viel öfter besuchte, seit Papa krank war: „Keine Angst, meine Kleine! Wenn alles vorbei ist, wird deine Mama aufhören zu trinken, das verspreche ich dir.“
    Dies war ein furchtbarer Satz, auch wenn Onkel Werner ihn gewiss nicht ausgesprochen hatte, um sie einzuschüchtern. Wenn alles vorbei ist …
    Außerdem sollte er nicht recht behalten mit seinem Versprechen. Als ihr Papa starb, trank ihre Mama weiter wie zuvor. Es gibt Trinker, die wollen nur vergessen, andere richten sich systematisch zugrunde. Mama mochte anfangs zum ersten Club gehört haben, doch nach Papas Tod schloss sie sich dem zweiten an. Später erzählte sie Sonja einmal, dass sie noch viele Kinder haben wollten, Papa und sie, mindestens drei. Und das musste stimmen. Sie konnte sich noch erinnern, dass Papa sie manchmal im Spaß „große Schwester“ genannt hatte, obwohl sie noch gar keine Geschwister hatte. Die hatten aber wohl
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