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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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bei dem literaturhistorischen Ereignis dabei.
    Provokationen fallen bei dem radikalen, oft aggressiven Nonkonformisten bis heute auf – trotz des mittlerweile fortgeschrittenen Alters. Nach anfänglicher Ablehnung des politischen Engagements der Literatur bemühte er sich, zumal in Theaterstücken, den Zusammenhang von Gesellschaft und Sprache aufzudecken. Die erzählenden Schriften Handkes, die sein Gespür für charakteristische Zeitstimmungen mit stilistischer Reizbarkeit verbinden, sind
Selbstfindungsgeschichten. Auch seine Journale bieten vor allem die Selbstanalyse – einschließlich der Hinwendung zum Glauben und, in einer späteren Phase, zur politischen Aktivität.
    In Gero von Wilperts Lexikon der Weltliteratur heißt es, Handke habe in den Balkankriegen 1995 bis 1999 »durch einseitig-schönfärberische Propaganda für Serbien seine Glaubwürdigkeit und sprachliche Sensibilität« eingebüßt. Dem Leser wird nicht entgangen sein, dass ich hier um eine sachliche Zusammenfassung meiner Gedanken über Handke bemüht bin. Denn ich möchte auf keinen Fall den Verdacht entstehen lassen, dass ich etwa auf seine Äußerungen über mich reagierte.
    Christoph Ransmayr ist ein origineller Erzähler. Dank Scharfsinn, dank ungewöhnlicher Phantasie und viel Humor vermag er historische Fakten und Dokumente auf überzeugende, ja, virtuose Weise mit Fiktivem zu verbinden. Sein Talent hat mich am stärksten in dem geradezu spannenden Roman Die letzte Welt beeindruckt, erschienen 1988. Im Mittelpunkt dieses Buches steht der große römische Dichter Publius Ovidius Naso. Seine Lebensgeschichte verknüpft
Ransmayr mit Ovids berühmtem Hauptwerk, der großen erzählenden Dichtung Metamorphosen . Schon diese Verknüpfung der beiden Handlungsfäden macht die Lektüre zu einem außerordentlichen Vergnügen. Bietet er eine Auseinandersetzung mit der antiken Welt? Ja, das auch, doch vor allem eine witzige und höchst intelligente Auseinandersetzung mit unserer Zeit. Ransmayrs Talent bewährt sich aber auch in Prosastücken, die pfiffig und anmutig zwischen Erzählung und Reportage schwanken.
    Nun war Handke von Anfang an eine Figur nicht nur des literarischen Lebens, sondern auch des Showbusiness. Stärker als seine schriftstellerische Leistung wirkte sein Image. Die Faszination, die er ausübte, ähnelte jener, die von Schlagersängern und manchen Filmschauspielern ausgeht. Sie war in erster Linie das Resultat einer permanenten Selbstpräsentation. Mit alldem hat Christoph Ransmayr nichts gemein. Ist es noch nötig, die Frage zu beantworten, wer mir von diesen beiden Autoren, Handke und Ransmayr, nähersteht? Jedenfalls ist es gut, dass wir in der zeitgenössischen Literatur zwei solche (sehr unterschiedliche) Figuren haben.

    Welche literarische Bedeutung haben die Werke von Alexander Puschkin?
    Ich habe unlängst einige gebildete Freunde (darunter war freilich kein Slawist) gefragt, wer denn der bedeutendste russische Schriftsteller sei. Sie nannten allesamt Leo Tolstoi oder Fjodor Michailowitsch Dostojewski oder auch beide zusammen. Ich habe dieselbe Frage auch einigen Russen gestellt, die ihre Literatur gut kennen. Jeder antwortete sofort: Alexander Puschkin. Was steckt dahinter?
    Die Sache ist sehr einfach: Tolstoi und Dostojewski verdanken ihren Erfolg in Russland und in der ganzen zivilisierten Welt Romanen und Erzählungen, jedenfalls Prosawerken. Man kann sie in alle Sprachen übersetzen, was tatsächlich auch geschehen ist. Natürlich sind die Übersetzungen von unterschiedlicher Qualität. Doch selbst die schwachen lassen in der Regel die Genialität der Originale erkennen. Für die Lyrik gilt das leider nicht.
    Mit anderen Worten: Von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, sind die guten Übersetzer der Poesie wohl imstande, inhaltliche und formale Eigentümlichkeiten eines Gedichts wiederzugeben, nicht aber – um es mit einem
Wort auszudrücken – dessen Charme. Die berühmtesten Dichter Polens (Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki) kennt man hierzulande nicht, obwohl auch wir sehr gute Übersetzungen (etwa die von Karl Dedecius) haben. Das trifft in umgekehrter Richtung ebenfalls zu: Dass es in Deutschland einen großen Dichter namens Friedrich Hölderlin gab, wissen in Polen nur die Germanisten.
    Über die Hälfte des Werks von Puschkin machen seine Versdichtungen aus, die Lyrik bildet unzweifelhaft den Schwerpunkt seines ganzen Werks. Was immer er schrieb – Romane, Erzählungen, Dramen, Märchen -, er schrieb es
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