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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Autoren: Will Berthold
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stehen, sieht zum Pier hin, wo immer noch Hunderte stehen, die nicht auf das Schiff kamen, schweigend aneinandergepreßt, dunkel, Menschen, die mit gierigen Augen zu dem Dampfer sehen, der in die vermeintliche Sicherheit schwimmt … Gescheiterte, Wartende, die vielleicht das bessere Los gezogen haben.
    Auf einmal überfällt Marion die Vorstellung, daß Jürgen unter ihnen sein könnte, verletzt vielleicht, dieser Horde ausgesetzt, die in wütender Panik über ihr Kind hinwegtrampelte. Rette sich, wer kann! Einer auf Kosten des anderen, einer des anderen Feind oder sein Opfer.
    Der Gedanke wird zum Wahn, zum Zwang.
    Die Mutter sieht auf einmal wieder das gräßliche Bild, erlebt es zum zweitenmal, atmet schwer, spürt den wütenden, zuckenden Schmerz im Kopf, merkt, wie sich die Angst wie ein Lasso um ihren ganzen Körper legt. Der Boden scheint nachzugeben. Ihre Augen tränen …
    Marion Fährbach reißt sich von dem alten Herrn los, der sie festhält, sieht entsetzt, wie das Fallreep eingezogen wird, die letzte Verbindung mit dem Land, wo ihr Kind, wo Jürgen, der Fünfjährige, ist, allein … bei 15 Grad unter Null! Irgendwo abseits liegend wie ein Bündel Kleider. Kleider würden sie mitnehmen. Kinder lassen sie liegen …
    Marion Fährbach reißt sich los, hastet auf die Reling zu, steht da, starrt hinab. Der Schwindel überkommt sie. Sie breitet die Arme aus, beugt den Oberkörper vor, versucht sich abzudrücken, schafft es nicht, schließt die Augen, wird endlich von Männerhänden festgehalten, zurückgezogen.
    »Nehmen Sie doch Vernunft an«, sagt eine Frau.
    Marion reißt sich los, schlägt um sich, mit beiden Händen. Sie schreit, beißt, atmet schwer. Sie hat einen irren Ausdruck im Gesicht, als sie es noch einmal versucht. Zwei Matrosen halten sie fest.
    Ihr letzter Widerstand zuckt in harten Männerfäusten.
    »Lasst mich los!« schreit Marion. »Ich will zurück … an Land … ich muß! Jürgen … Jürgen!« brüllt sie. Die Verzweiflung zerlegt den Namen in Silben des Wahnsinns.
    »Die spinnt«, sagt ein Umstehender.
    »Komm«, stößt der eine Matrose seinen Kumpel an, »wir schaffen sie ins Lazarettdeck … der Doktor soll ihr 'ne Beruhigungsspritze verpassen.«
    Die beiden ziehen Marion gewaltsam weiter. Ein letztes Mal bäumt sie sich auf, versucht sie sich loszureißen, wie ein Tier, das die Nähe des Schlachthofes wittert.
    Dann ist ihr Widerstand gebrochen. Sie geht langsam wie ein Kind, folgsam Schritt für Schritt, neben den beiden Matrosen her, wie von einer Schnur gezogen, ohne eigenes Leben, ohne bewußten Blick.
    »Na, so eine Zicke«, brummelt ein Mann.
    »Ihr Junge ist an Land zurückgeblieben«, erwidert eine Frau leise.
    »Scheißkrieg«, sagt ein Dritter.
    Während die beiden Matrosen die leblose Marion Fährbach in das Lazarettdeck schaffen, läuft die ›Cap Arcona‹, von zwei Schleppern gezogen, langsam aus.
    Als letzter, blinder Passagier kommt die Angst an Bord. Sie lähmt die Gespräche, nistet sich in jedem Deck ein, flackert in jedem Blick, lauert in den Ohren, läßt jedes Geräusch zur Folter, jede Minute zur Qual werden.
    Die beiden Schlepper tuckern zurück. Die ›Cap Arcona‹ läuft mit eigener Kraft: in die Rettung oder in den Tod. Wer wüßte es schon …
    »Seien Sie kein Kindskopf, Straff«, sagt Kapitän Gerdts in seiner Kabine zu seinem Ersten Funkoffizier, »natürlich weiß ich, daß wir die Rettungsboote nicht benutzen können … Fünf Jahre lag der verdammte Dampfer auf Reede, ohne daß sich einer um ihn kümmerte … und dann soll er in fünf Stunden flottgemacht werden! Da machen Sie mir mal vor, wie Sie in dieser Zeit die Taljen einsetzen.«
    Der Kapitän lacht bitter. »Wir sind kriegsverpflichtet, Straff. Wir unterstehen nicht mehr unserer Reederei, sondern dem OKM … Und vom Seekrieg sollten Sie eigentlich mehr verstehen als ich …«
    »Und ob«, erwidert der Funkoffizier.
    Einen törichten Augenblick lang ist Christian Straff fast erleichtert, daß sich wenigstens in der Zentrale seines Schiffes nichts geändert hat. Der Raum ist groß und komfortabel: zivil eben. An den Wänden hängen noch Schnappschüsse aus besserer Zeit, Zeitungsausschnitte mit Reportagen aus Rio, aus Buenos Aires, aus Hamburg. Straff betrachtet die Bilder an der Wand, die Zeitungsausschnitte, und er liest langsam, Wort für Wort einer Reportage, die er längst auswendig kennt:
    »Schiff der Meere: Auf See wirft auch der nüchternste Alltagsmensch seine
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