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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Autoren: Will Berthold
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gewohnte Hülle ab, spielt die Rolle des Weltenbummlers und beginnt, von der Schönheit der Reise verwandelt, von ihr zu schwärmen. Die Passagiere fühlen sich im Riesenleib des Schiffes geborgen. Eine kleine Stadt findet in seinen stählernen Wänden Platz.
    Haushoch ragt der Schiffsrumpf aus dem Wasser empor. In vielen Reihen übereinander glänzen die Bullaugen in ihren Fassungen. Darüber gestaffelt liegen die Decks, die Kommandobrücke, die mächtigen Schornsteine, und hoch über allem vibriert das durchsichtige Filigran der Antennen. Innen aber pocht und klopft das Herz des Schiffes. Da stampfen die Maschinen, rhythmisch und sicher, mit unheimlicher Genauigkeit.
    Man muß einmal in die Maschinenräume hinabgestiegen sein, um zu begreifen, welche Kräfte zur Fortbewegung eines solchen Riesengebildes notwendig sind.
    Man sollte aber auch auf der Kommandobrücke gestanden haben, um das wunderbare Präzisionswerk kennenzulernen, das zur Schiffsführung notwendig ist, und um zu erfahren, wie Funktelegraphie, Rauchmelde- und Schallsignalanlagen funktionieren …«
    Dann betrachtet der Funkoffizier den Kommandanten, mit dem er schon vor dem Krieg auf der ›Cap Arcona‹ fuhr, und erschrickt wieder. Der Fünfziger, dem er gegenübersteht, ist kein alter Seebär mehr, sondern ein alter Mann. Die Uniform schlottert an ihm herum wie ein Sack. Auch die Gesichtshaut ist ihm zu weit geworden, sie wirkt wie von der Zeit plissiert. Der Blick des Alten ist so müde wie seine Stimme. Unter seinen tiefliegenden Augen hängen Tränensäcke. Daß Kapitän Gerdts krank ist, sehr krank, weiß jeder seiner Männer. Als Kommandant eines Wohnschiffs war er vielleicht noch tauglich, aber für eine Fahrt wie diese, quer durch die kochende Hölle …
    Straff weiß, daß man Kapitän Gerdts ablösen wollte, aber daß er sich weigerte und deshalb jetzt mit trostlosem Gesicht einen trostlosen Auftrag ausführt. Daß er sein Schiff mit Menschen vollschichtete wie mit Ware, daß er die ›Cap Arcona‹ mit 400 Prozent überladen mußte. Daß der Zweischraubendampfer bestenfalls mit halber Geschwindigkeit laufen wird und daß das Zickzackfahren mit äußerster Kraft – die einzige, kümmerliche Chance, einem Angriff feindlicher Unterseeboote zu entkommen – somit auch beim Teufel ist …
    »Geleitschutz habe ich natürlich angefordert«, sagte der Kommandant. »Natürlich hat uns die Kriegsmarine zugesagt, daß sie tut, was sie kann, und natürlich sind wir allein auf uns gestellt. Ist auch nicht so wichtig, Straff; es ist mir lieber, ich komme ohne Geleitschutz heil durch, als wir saufen mit Geleitschutz ab, wie die ›Wilhelm Gustloff‹.«
    Schon wieder das verdammte Stichwort, denkt Straff. 4.000 Menschen sind vor drei Wochen ertrunken, versenkt von einem Torpedotreffer in der Nähe der Küste. Noch heute werden zwischen Eisschollen Gepäckstücke, Wrackteile und Leichen angetrieben.
    Eine feine Rechnung: Auf der ›Gustloff‹, die nicht viel kleiner als die ›Cap Arcona‹ war, sollten 5.000 Flüchtlinge nach Westen geschafft werden; 4.000 sind ertrunken, nur jeder Fünfte kam davon. Das macht, rechnet Christian Straff weiter, bei uns 8.000, sollten wir unter gleichen Bedingungen absaufen wie das KdF-Schiff. 2.000 hätten also eine Chance zu entkommen; jeder Fünfte … wenn unsere Rettungsboote wie bei der ›Gustloff‹ intakt wären. »Ja, wir sind tief gesunken, Straff … Ich kann keine Verpflegung ausgeben, bestenfalls heißen Tee für die Kinder. Und kommen wir durch, schickt man uns sofort wieder zurück … Was mich betrifft, so ist es meine letzte Fahrt – so oder so. Ich bin müde, Straff. Nicht, daß ich zu feige wäre, durch die Ostsee zu fahren. Aber die Verantwortung für einen zehntausendfachen Selbstmord kann mir niemand mehr auferlegen.«
    Der Funkoffizier ist froh, daß der eintretende Erste Ingenieur den Alten ablenkt.
    »Was gibt's, Chief?« fragt ihn Kapitän Gerdts.
    »Ich glaube, daß unsere Turbinen noch bis Lübeck durchhalten, wenn wir sie nicht so hetzen.«
    »Na, immerhin«, versetzt der Kommandant sarkastisch.
    »Wie lange brauchen wir?« fragt Straff den Ingenieur-Offizier.
    »Ich bin kein Hellseher … vielleicht zwei Tage, vielleicht fünf … vielleicht bleiben wir auf offener See liegen, mit Turbinenschaden …«
    »Lassen Sie das!« sagt der Kapitän ruhig. »Nehmen wir an, daß die Turbinen durchhalten und wir an den Magnetminen vorbeikommen und daß uns die Waschküche die Flugzeuge
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