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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Autoren: Will Berthold
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Richtung, so daß es noch einmal einen Aufschub gibt. Für eine Stunde, für zwei oder noch länger. Melber weiß es nicht, aber ein paar mit ihm eingeschlossene Matrosen überzeugen ihn, daß das Wrack der ›Cap Arcona‹ nicht so rasch sinken wird.
    Der heimliche Lagerleiter überlegt: In das Wasser springen? Glatter Selbstmord. Keiner hat eine Schwimmweste. Und was mit den Verzweifelten geschah, die in blinder Panik absprangen, hat Melber vom Oberdeck aus verfolgt. Es ist unwahrscheinlich, daß auch nur einer durchkam.
    Melber versucht ein letztes Mal, wenigstens einen Niedergang zu den unteren Lazarettdecks zu löschen. Aussichtslos. Die Hitze wabert ihnen entgegen, treibt ihnen die Tränen in die Augen, versengt ihnen die Haut.
    Es ist unvorstellbar, was unten sich abspielt. Im Behelfslazarett in den Maschinenräumen waren die Häftlingsärzte, die Dr. Corbach assistierten, zunächst froh, als die Verbindung abriß. Sie hatten die Verwundeten oft schon zu zweit, zu dritt übereinandergestapelt, und die Raumnot schloß jede geordnete Hilfe aus. So versorgten sie nach dem Gesetz des Zufalls, wer ihnen gerade in die Hände kam. Jetzt, da keine neuen Verletzten herangeschafft wurden, konnten die Samariter wenigstens die Toten von den Sterbenden trennen und so Luft schaffen.
    Dr. Corbach, der schlanke, kleine Schiffsarzt, arbeitet schweigend. Wieder sieht er aus wie ein Gelehrter, den die Uniform nicht maskieren kann; und wieder mißlingt es seiner randlosen Brille, die Güte wie die Verzweiflungseiner Augen zu tarnen. Er tut, was er kann. Er schuftet mit zehn Händen. Seine Autorität überträgt sich auf seine Helfer und auf seine Patienten.
    »Wollen Sie nicht endlich gehen?« sagt ein österreichischer Häftlingsarzt zu ihm.
    Dr. Corbach betrachtet ihn, ohne zu begreifen. »Warum?« fragt er ruhig.
    »Sie hätten doch eine Chance mit Ihrer Marineuniform. Sie werden doch leichter aufgefischt als wir.«
    »Aufgefischt?« fragt er und horcht seiner Stimme nach. »Wozu?« Er deutet auf seine Patienten. »Und was wird aus ihnen?«
    Die Hitze loht in den Raum, macht ihn zum Dampfkessel. Der Schweiß läuft ihnen über das Gesicht. Die Helfer erfassen, was ihnen bevorsteht, daß es keine Rettung gibt, keinen Ausstieg; daß die Flammen immer näher rücken, auf die Verwundeten und die Samariter zu, und daß es die Patienten noch leichter haben werden, denn ihr angeschlagenes Leben endet rascher.
    Helfen, überlegt Dr. Corbach. Die letzte Morphiumpackung ist angebrochen. Er verfügt noch über fünf Ampullen.
    Neben ihm stöhnt ein verletzter SS-Mann. Die Häftlinge wollten ihn liegenlassen. Aber er schleppte sich mit barbarischer Kraft zum Lazarett, und als Dr. Corbach ihn sah, versuchte er, auch ihm zu helfen.
    Der Schiffsarzt sieht sich um. Er muß die letzten fünf Ampullen gezielt verteilen. Vier Menschen schenkt er tiefe Bewußtlosigkeit. Sie werden unbewußt sterben.
    Der fünfte soll er selbst sein.
    Dr. Corbach entblößt sich den Arm. Dann sieht er die bittenden, flehenden Augen des SS-Manns. Einen Moment kämpft er mit sich. Soll er einem dieser Unmenschen, die für das, was alles hier geschah, verantwortlich sind, noch helfen?
    Der Arzt begegnet noch einmal dem Blick und nickt. Er setzt die Kanüle an, injiziert Barmherzigkeit.
    Der Dampf dringt ein und beendet nicht nur die letzte Hilfe, sondern auch die letzte Sicht.
    Erst jetzt greift Dr. Corbach zur Pistole. Keiner hört mehr den Schuß, mit dem der mutige, kleine Schiffsarzt auf verlorenem Posten endet …
    Georg Fährbach ist an Land. Englische Soldaten mit dem flachen Stahlhelm halten ihn für einen Marineangehörigen und wollen ihn einer Kolonne Gefangener zuteilen.
    »Sie müssen helfen«, sagt Fährbach, »ich war ein Häftling … ich …«
    Der Tommy schüttelt den Kopf. Er hat Befehle. Weiß Gott, was diesen Krauts alles einfällt!
    Fast 60 Häftlinge in Zebrakleidung wurden aufgefischt und stehen am Ufer. Einige erkennen jetzt ihren Kameraden Fährbach und stellen den Irrtum klar. Den Rest besorgt das gute Englisch, das der frühere Marineoffizier spricht.
    Neustadt ist seit zwei Stunden besetzt. Verschleppte Arbeiter zogen aus allen Richtungen in die Stadt. 15.000. Ihr Siegestaumel muß sich austoben. Sie plündern Geschäfte. Die Engländer stehen dabei und unternehmen nichts. Sie wissen noch nicht, daß ihre Flugzeuge für den grausamen Tod in der Neustädter Bucht verantwortlich sind. Sie glauben, daß die deutsche Besatzung die Schiffe
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