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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Autoren: Will Berthold
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ihr, mit ihm zu kommen, und zieht sie in den Jeep hinein. »Where is the town hall?« fragt er sie.
    Die Vorhut der Engländer erreicht das Rathaus ohne Widerstand. Die Einnahme der Stadt ist völlig undramatisch, obwohl nirgends in Deutschland der Krieg so grausam und blutig zu Ende geht wie in der Neustädter Bucht.
    Ein paar Offiziere und Soldaten schwingen sich auf dem Marktplatz von ihren Fahrzeugen und gehen auf das Rathaus zu.
    Marion will stehen bleiben, aber die Offiziere fordern sie auf, als Dolmetscherin mitzukommen.
    Der Bürgermeister erwartet die Engländer in seinem Amtszimmer. Als sie ihn gefangennehmen, wirkt er erleichtert.
    »Sie sind der Bürgermeister?« übersetzt Marion die Frage des Captains. »Übergeben Sie die Stadt kampflos und verbürgen Sie sich, daß keine Angriffe auf unsere Truppe erfolgen?«
    »Was die Zivilbevölkerung betrifft, ja«, erwidert der Bürgermeister, »aber in der U-Boot-Schule ist noch Kriegsmarine.«
    Der Captain nickt.
    »Telefonieren Sie mit dem Kommandeur der Truppe, daß er sich in einer Stunde hier ohne Waffen einfindet. Andernfalls …«, übersetzt Marion.
    Dann wartet sie. Sie wirkt ruhiger, als sie nunmehr aus der Proszeniumsloge erlebt, wie der Krieg zu Ende geht.
    Die U-Boot-Schule hat ihre Kapitulation telefonisch bestätigt.
    Sie dolmetscht noch ein paar Befehle des Offiziers, der auch froh scheint, die Sache hinter sich zu haben.
    Dann bringen verschleppte, ausländische Arbeiter die ersten Nachrichten von der Katastrophe der ›Cap Arcona‹.
    Die betroffenen Engländer nehmen an, daß die Schiffe von den SS-Leuten gesprengt wurden.
    Marion hört jedes Wort. Das Entsetzen breitet sich in ihrem Gesicht aus.
    Fast gleichzeitig meldet eine britische Funktruppe vom Strand von Pelzerhaken, daß von SS-Leuten Hunderte von schiffbrüchigen Häftlingen ermordet wurden.
    »The whole town will pay for that!« brüllt der Captain.
    Marion Fährbach kann es nicht übersetzen. Sie ist zusammengebrochen …
    Der Sturz des Rettungsbootes am Fallreep fällt fast gleichzeitig mit dem letzten Luftangriff zusammen. Links von Christian Straff krepiert eine Bombe. Der Luftdruck schleudert ihn mit dem Kopf gegen die Reling. Der Funkmaat stürzt herbei und beugt sich über ihn.
    Christian steht benommen auf, starrt nach unten. Er sieht die Flugzeuge nicht, er hört ihre Geschosse nicht, nicht das Brüllen der Verwundeten, nicht die Schreie der Sterbenden.
    Fast alle Insassen wurden von dem herabfallenden Boot erschlagen. Menschen mit zerschmetterten Köpfen treiben im Wasser.
    Christian sucht Jutta; er sieht sie nicht. Vielleicht wurde sie getroffen, oder sie treibt noch zwischen Hunderten von Menschen, die versuchen, von der brennenden ›Cap Arcona‹ wegzukommen, die die Engländer gleich wieder angreifen können.
    Irgendwo treibt, von der Strömung mitgerissen, auch Georg Fährbach, der Hilfe bringen soll.
    »Los«, sagt Christian Straff, »ein Seil.«
    Sekunden später lassen sie Christian hinab.
    Er hängt zehn Meter hoch über dem Wasser, als er ein von zerschmetterten SS-Leuten umgebenes Mädchen im Wasser treiben sieht und am Kopftuch Jutta erkennt. Erleichtert bemerkt er, daß sie mit den Armen rudert, daß sie lebt.
    Der Tumult an Bord der ›Cap Arcona‹ ist unbeschreiblich. Lebende trampeln über Verwundete. Tote blockieren den Weg. Das Feuer breitet sich aus wie eine Seuche. Die Deckplatten glühen wie Heizkörper; farblos zuerst, dann hellrot. Aber sie lassen sich nicht abstellen. Und Verwundete, Menschen mit zerfetzten Beinen, mit zuckenden Gesichtern, Stöhnende, Sterbende, Verlorene schleppen sich mit letzter Kraft weiter, kriechen ein paar Meter noch, bleiben liegen und starren mit weiten, leblosen Pupillen ihrem wie Lava heranbrodelnden Tod entgegen.
    Unter ihnen, eingekeilt von Häftlingen, ist Dreiling, der Vogelkopf. Sein linker Arm ist zerfetzt, sein Oberschenkel durchschossen. Er erkennt Häftlinge vom Selbstschutz Melbers, die versuchen, aus dieser Legion der Verdammten einige auszusieben, die vielleicht noch zu retten sind.
    »Nimm mich mit, Kumpel«, hängt sich der Vogelkopf an die Beine des Häftlings Gladon.
    Der Engländer zögert kurz.
    »Komm«, nimmt ihn Melber am Arm.
    »Bitte …! Bitte!« keucht, brüllt Dreiling. »Ich hab' euch Wasser gegeben, ich hab' … ich hab …«
    Melber spürt seinen Speichel im Mund. Er schmeckt nach Galle, nach Blut. Er sieht den Vogelkopf vor sich, wie er die Häftlinge in der Quarantänebaracke mit
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