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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Autoren: Will Berthold
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Der Kleine ist zu sehr eingekeilt.
    »Gleich – gleich -!« ruft sie wieder. In ihrer Stimme ist Angst und Verzweiflung. Lieber Gott, betet sie, lieber Gott, lass uns hinkommen, den Jungen und mich, lieber Gott …
    Vorne am Fallreep verengt sich der Abfluß. Es ist, als würde ein Faß Flüssigkeit durch einen einzigen Flaschenhals gepreßt. Die Letzten drängen brutal, die Vorderen stemmen, schlagen und stoßen zurück.
    Ein alter Mann hält einen Radioapparat in beiden Armen, preßt ihn an sich wie ein Kind seine Puppe, während er mit den Ellbogen wild um sich stößt. Aber es hilft nichts – der Apparat wird ihm aus den Händen gerissen, emporgeschleudert wie ein Sektkorken. Dann verschwindet er zwischen den Leibern, zwischen den Füßen, platzt wie ein fauler Kürbis. Füße trampeln über das Gewirr von Drähten, Spulen, Röhren. Der Alte schreit mit einer hohen, überkippenden Stimme nach seinem Radio, flucht, weint, vergißt die Flucht, kämpft jetzt nicht mehr um sein Leben, bückt sich, um von dem zertrümmerten, zertretenen Apparat noch etwas zu retten, und über sein faltiges, schmutziges Gesicht laufen Tränen.
    »Mami – Mami – es tut so weh – Mami – hilf mir …«
    In diesem Augenblick verliert Marion den Jungen. Sie fährt herum, stemmt sich gegen den Sog, aber der Ansturm wirft sie zurück, drängt sie zum Fallreep ab. Sie klammert sich am Geländer fest. Zwei Marinesoldaten ziehen sie weg, sanft zuerst, dann mit Gewalt. Ihr Gesicht mit den weit offenen, vor Angst fast irrsinnigen Augen ist nach rückwärts gewendet, aber sie sieht den Jungen nicht mehr, sie sieht nur verzerrte Gesichter, offene Münder, Fäuste, die sich heben und wie Hämmer nach unten fallen, emporgestreckte Arme und Hände mit weit gespreizten Fingern: Hände von Ertrinkenden, die vergeblich einen Halt suchen.
    Und plötzlich hebt sich über den Lärm ihre Stimme – nicht sehr laut, mit wenig Kraft, doch so voller Verzweiflung, so schrecklich hoffnungslos, daß es plötzlich still wird um sie. Eine atemlose, erschrockene, beschämte Stille. Und immer noch der Ruf, der klingt, als wäre er die laut gewordene Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit all dieser Menschen: »Jürgen – Jürgen – mein Junge – Jürgen – Jürgen …«
    Drei Mann müssen Marion Fährbach nach unten ins Schiff bringen. Sie wehrt sich verzweifelt, schlägt um sich, ruft, schreit. Dann wird sie still und schwer, als hätte sie alle Kraft verlassen. In der Kabine bricht sie zusammen, ihr Gesicht hat alle Farbe verloren, über ihre Wange zieht sich ein blutiger Striemen, und Tränen, die unter ihren geschlossenen Augenlidern laufen, vermischen sich mit dem Blut zu einem dünnen, roten Rinnsal.
    Die Matrosen bleiben draußen stehen.
    »Junge, Junge«, sagt der erste und wischt sich über die Augen. »Hätte mir jemand das gesagt …«
    »Die arme Frau!« sagt der zweite.
    »Halt's Maul!« schreit ihn der dritte an. »Halt jetzt bloß dein Maul!«
    »Das Schiff wird unter einem guten Stern die Meere befahren …«, hatten sie Seeleute nach der Jungfernfahrt gesagt. Sie hatten geglaubt, einen guten Grund für ihre Prophezeiung zu haben: Gleich hinter Southampton wurde – ein wenig verfrüht – ein Kind geboren, ein Mädchen, dem die Reederei lebenslänglich Freipassage schenkte.
    Der gute Stern begleitete das Schiff auf allen seinen Fahrten. Doch jetzt, am 11. Februar 1945 in Gotenhafen, scheint es, als wäre sein Stern verblasst, als hätte er sich verborgen hinter den eisigen Winterwolken, die grau und schwer über dem brennenden Land hängen. Damals:
    Das Schiff lief in Hamburg auf der Helling von Blohm & Voß vom Stapel. »Ich taufe dich auf den Namen ›Cap Arcona‹!« rief die elegante Tochter des Reeders mit heller, vor Erregung ein klein wenig heiserer Stimme und ließ die übliche Flasche Sekt am Bug des neuen Ozeanriesen zerschellen.
    Ein großartiger Abschied von Hamburg. Die Geburt des Mädchens. Mutter und Kind ertranken fast im Blumenmeer in der Kabine und im Gang davor. Rio de Janeiro: Zuckerhut und drei Flugzeuge, die zur Begrüßung Blumen abwarfen. An der Kaimauer eine 80 Mann starke Kapelle der brasilianischen Marine, Tausende von Menschen an der Pier, die dieses neue Wunderschiff mit seinen 1.700 Passagieren bestaunten. Auf dem Promenadendeck die glückliche junge Mutter, die das Baby den drängenden Fotografen entgegenhielt. Ein Wunderschiff: Fachleute aus aller Welt bestätigten, daß mit der ›Cap
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