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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Autoren: Will Berthold
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was?«
    Der Offizier antwortet nicht.
    Der Maat läßt sich auf seinen Stuhl fallen, streckt die Beine weit von sich, feixt. »Für mich geht ein alter Traum in Erfüllung. Wollte schon immer mal mit einem Offizier schlafen.«
    »Wenn du aufwachst, mein Sohn«, murmelt Straff, während er die Nachrichten durchgeht, »wirst du einen Katzenjammer haben, der sich gewaschen hat. Und ich werde nichts tun, um es dir leichter zu machen. Jetzt aber halt endlich deine Schnauze.«
    Die Nachrichten sind meistens Blind- und Füllsprüche. Aus Gründen der Geheimhaltung ist der eigentliche Funkverkehr mit der ›Cap Arcona‹ stillgelegt. Nur im äußersten Notfall darf sie funken, bei einem russischen U-Boot-Angriff zum Beispiel, wie er die vor zehn Tagen aus dem gleichen Hafen ausgelaufene ›Gustloff‹ versenkte, von der jetzt noch Leichen, Wrackteile und Gepäckstücke als Strandgut angetrieben werden.
    »Sonst nichts?« fragt der Funkoffizier schließlich.
    »Nee. Wie wär's mit einem Schluck, Herr Kaleu?« Der Möhrenkopf kramt eine Flasche hervor, nimmt den Korken ab, setzt sie an, sein Adamsapfel hüpft auf und nieder.
    »Genug!« fährt ihn Straff an.
    »Ich sauf, bis ich absauf'«, erwidert der Maat, setzt aber die Flasche gehorsam ab. »Wissen Sie, ich mach' mir vorher warm. Das Wasser nämlich ist verflucht kalt.«
    »Witzbold.« Der Funkoffizier nimmt die Flasche, setzt sie ohne Umstände an den Mund.
    »Nich so ville!« jammert der Möhrenkopf. Dann lacht er, und sein Gesicht spielt Weihnachtsmann. »Wissen Sie, wie viele ich noch habe?«
    »Wie viele?«
    »Fünfe.«
    »Woher?«
    »Beziehungen. Hab' einem Zahlmops auf das Schiff geholfen.«
    »Freut mich, daß du so tüchtig bist. Jetzt kannst du's gleich noch mal beweisen. Erst holst du einen Arzt, und dann schaust du, daß du die Mutter von diesem Jungen auftreibst.«
    »Herr Kaleu – ich …«
    Straff sieht den anderen nur an. Der Möhrenkopf duckt sich wie unter einem Peitschenhieb, grinst kläglich, trollt sich ohne Widerspruch. Er weiß genau: Mit Männern, die einen so ansehen wie dieser Funkoffizier, kann man eine Menge Spaß haben, man kann sich hundertprozentig auf sie verlassen – aber man muß ihnen parieren.
    Einen Arzt auftreiben, das geht schnell, denkt er, als er aus der Kabine stolpert. Aber wo soll ich die Mutter finden? Wie? Leichter findest du ein Sandkorn in der Wüste …
    Der Tag bleibt grau, diesig. Der Nordostwind schneidet wie mit einem Messer in die Gesichtshaut, läßt die Augen tränen, reißt die Worte wie Nebelfetzen von den Lippen. Über den drei Schornsteinen des Schiffs hängt ein niedriger Himmel, die Deckaufbauten sind von einer Eisschicht überzogen. Die vermummten Besatzungsmitglieder sehen aus wie Marsmenschen.
    Marion Fährbach irrt über die Schiffsgänge zwischen den Decks, geht von Raum zu Raum, von Mensch zu Mensch. Sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten. Aber die Angst um Jürgen treibt sie vorwärts.
    »Haben Sie einen kleinen Jungen gesehen … fünf Jahre alt … mit einem schwarzen Lodenmantel … ich habe ihn verloren, er ist so zart und …«
    Die Gefragten schütteln die Köpfe. Es gibt welche, die sie mitleidig ansehen, die meisten jedoch nur gleichgültig.
    Weiter. Fragen. Immer wieder fragen. Zehnmal. Hundertmal. Tausendmal.
    Als man Marion nach unten gebracht hatte, war sie ein paar Minuten später schon wieder zu sich gekommen. Sie hatte sich benommen umgesehen, während ihre Hand nach dem Jungen tastete. Und dann das Begreifen, die Erinnerung, das Entsetzen. Und die Suche.
    Jetzt ist sie im ehemaligen Billardsaal. Aber das weiß sie nicht. Sie wandert immer wieder durch die gleichen Decks. Das Schiff ist ein Labyrinth.
    Marion, die Frau eines Seeoffiziers, von dem sie seit Monaten nichts mehr gehört hat, sollte eigentlich wissen, wie es auf einem Schiff aussieht. Aber ihre Gedanken laufen schneller, als es ihre Beine zu tun vermögen. Sie bangt und betet, glaubt und verzweifelt, sucht, sucht, sucht …
    »Haben Sie einen kleinen Jungen gesehen, blond, mit einem schwarzen Lodenmantel …«
    Tanzbar. Musikraum. Nur fremde Kinder. Ein Riesenbild des Führers an der Wand. Bunt, Feldherrnpose.
    Ein Matrose verwehrt Marion den Aufgang zum Oberdeck. »Jetzt nicht«, sagt er. »Später können Sie 'rauf.«
    »Ich muß! Bitte! Sie müssen mir helfen, verstehen Sie doch, es ist mein Junge … vielleicht ist er da oben und friert, er ist fünf Jahre alt, er ist das einzige … mein Mann ist
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