Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Autoren: Will Berthold
Vom Netzwerk:
Arcona‹ der Schiffsbau eine neue Meisterschaft erreicht hatte. Schon äußerlich bot das Schiff mit den drei Schornsteinen ein Bild anmutiger Eleganz und Vollkommenheit. Die harmonischen Formen des Promenaden- und Bootsdecks, die senkrecht aus dem Wasser steigende Linie des mächtigen Vorderstevens, die leicht nach hinten abfallenden Masten und Schornsteine, die ausladende Kommandobrücke, die das Deck über seine ganze Breite beherrschte, das alles ließ schon optisch die ›Cap Arcona‹ als ein Schiff erscheinen, das der Entwicklung vorausgeeilt war.
    Der 206 Meter lange und 26 Meter breite Dampfer hatte 27.560 Brutto-Register-Tonnen. Seine Turbinen trieben ihn mit ihren 24.000 PS mit rund 20 Knoten durch das Wasser – eine erstaunliche Geschwindigkeit. Das ›Blaue Band‹ des Südatlantiks errang er mühelos. Komfort, Küche und Keller machten ›Cap Arcona‹ zur Dauermode. In fünf Küchen arbeiteten 84 Köche. Auf einer einzigen Überfahrt verbrauchten die Passagiere 15.000 Kilo Fleisch, 6.000 Kilo Geflügel und Wild, 6.000 Kilo Fisch, 3.000 Kilo Schinken und Würste, 15.000 Kilo Gemüse, Salate und Küchenkräuter, 12.000 Sack Kartoffeln, 40.000 Eier, Hunderte von Kisten mit frischen Früchten neben einer Unmenge von Trockenproviant und Alkohol.
    Die Passagierliste nahm sich aus, als hätte sich hier die hohe Gesellschaft ein permanentes Stelldichein gegeben. Es konnte geschehen, daß an einem Tisch der Exkönig von Sachsen und der Präsident von Uruguay saßen, am nächsten Charlie Rivel, der ›Akrobat Schö-ö-ö-n‹, und Gustaf Gründgens. In einer Ecke hatte der britische Botschafter in Deutschland, Sir Nevill Henderson, Platz genommen, in der anderen Fritz Thyssen und zwei Tische von ihm entfernt die deutsche Kronprinzessin Cecilie.
    Im Jahre 1935 betrat ein knapp 25 Jahre alter Anfänger mit einem noch sehr jungen Offizierspatent der deutschen Handelsmarine, ein gutgewachsener Bursche mit hellen Augen und breiten Schultern, ein Kerl mit einem Appetit für zwei, auf alles, was ihm das Leben bieten konnte, die Gangway der ›Cap Arcona‹, um seinen Dienst als dritter Vierter auf dem Luxusschiff anzutreten.
    Er sah den Atlantikhimmel voller Sterne und das Oberdeck voll schöner Frauen. Er wollte die Sterne einzeln vom Himmel holen und die Schönen alle in die Arme nehmen, und er blinzelte, als blendete ihn der Glanz dieses schwimmenden Paradieses.
    Christian Straff, der Neue, blieb stehen, kostete die Salzluft, betrachtete ›sein‹ Schiff, bewunderte es, während über sein Gesicht ein übermütiges Lächeln huschte.
    Na denn los, dachte er, nichts wie drauf, dem Mutigen gehört die Welt. Dabei sah er auf die Linie des Schiffes und auf die Linien der weiblichen Passagiere und wußte nicht, was ihm besser gefiel.
    Das war damals gewesen.
    Und heute, am 11. Februar 1945:
    Christian Straff, der Erste Funkoffizier der ›Cap Arcona‹, steht, vom Landurlaub zurückkehrend, auf dem Kai: in der schreienden, wogenden, nach vorne drängenden Menge eingekesselt, unfähig, sich zu rühren, unfähig, einen selbständigen Schritt nach vorne zu tun.
    Flüchtlinge.
    Der Prachtdampfer, der sich fast sechs Jahre lang als Wohnboot für die Kriegsmarine mit Erfolg vor den alliierten Bombern versteckt hatte, ist zu einem Frachtkahn massierter Verzweiflung geworden. Er steht nicht mehr im Dienst des Luxus, sondern in der Heuer des Elends. Er ist der letzte Ausweg für 10.000 Flüchtlinge geworden, die er an Bord nehmen soll, um sie zu retten, und die in den nächsten Stunden vielleicht schon in der Ostsee absaufen werden wie Ratten, wie die 4.000 Flüchtlinge auf dem früheren Kraft-durch-Freude-Dampfer ›Wilhelm Gustloff‹, wie die 7.000 auf dem Passagierschiff ›Goya‹, wie die 3.000 auf dem Lazarettdampfer ›Steuben‹.
    Die Ostsee, dieses im bisherigen Kriegsverlauf ziemlich ruhige Binnenmeer, ist seit September 1944, seit der Kapitulation des kleinen Finnland vor der russischen Übermacht, ein Hexenkessel geworden, auf dem das Schicksal von Millionen schwimmt wie Treibeis.
    Mit der ›Cap Arcona‹ sollten 10.000 Flüchtlinge in Sicherheit gebracht werden. Aber es sind zweimal, dreimal, viermal so viele da, die mitgenommen werden wollen.
    Der Erste Funkoffizier Christian Straff steht nur ein paar Meter von Jürgen entfernt, als der Junge von der Mutter weggerissen wird. Er sieht, wie der Junge zwischen Beinen verschwindet, wie zwei, drei Menschen über ihn fallen, sich wieder aufrichten, fluchend
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher