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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Autoren: Will Berthold
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weiterdrängen.
    Er handelt, ohne lange zu überlegen.
    Die letzten drängen, stoßen. Das sich balgende menschliche Knäuel am Boden wird größer, wird zum Strudel, zur Falle, zu einer wütenden Schlägerei über einem Kind.
    Der Seeoffizier ist von der Menge eingekeilt. Er kann sich selbst kaum rühren. Er hebt den linken Fuß, winkelt ihn ab, stößt mit dem Knie zu, wieder und wieder, kümmert sich nicht um die empörten, schmerzlichen Aufschreie der Menschen, die er trifft. Mit der freien Faust hämmert er in ein wütend verzerrtes Männergesicht, spürt kaum, daß der Mann zurückschlägt. Als er sieht, daß er so nicht durchkommt, läßt er seinen prall gefüllten Seesack von der Schulter gleiten. Aufprall. Flaschen splittern. Ein durchdringender Geruch nach Schnaps.
    Schade, denkt er, verdammt schade um den Schnaps. Egal. Der Junge. Ich muß hin. Weiter. Schade um den Schnaps. Fünf Flaschen. Futsch. Egal.
    Mit beiden Fäusten schlägt er jetzt in das Gesicht des Mannes, der ihm den Weg versperrt. Der Mann schreit, sein Gesicht verschwindet.
    Weiter.
    Jetzt hat er zwei Arme frei. Kommt besser voran. Und kommt dennoch kaum vom Fleck. Was sucht dieser Alte hier am Boden herum? Ein Gewirr von Drähten. Der Alte schluchzt.
    »Platz da …«, schreit Christian Straff, »macht Platz, verflucht … macht Platz!« Stößt den Alten, der sich um seine Rufe nicht kümmert, beiseite. Weiter.
    Ein Posten der Verstärkung erkennt den Funkoffizier, ruft zwei weitere Kumpel herbei. Zu dritt gehen sie jetzt gegen die Menge vor, mit den Fäusten zuerst, dann mit dem Gewehrkolben. Sie sehen, wie das Gesicht des Offiziers verschwindet, wieder auftaucht, nicht vom Fleck kommt. So holen sie noch schnell aus und dreschen noch gemeiner zu, bahnen sich eine Gasse, während sich Straff Zentimeter um Zentimeter vorankämpft, zu der Stelle, wo der Junge unter dem Menschenknäuel verschwunden ist.
    Er erreicht sie schließlich, holt unter den Leibern der Erwachsenen das blutende, bewußtlose Kind hervor, legt es über die Schulter. Sie erkämpften sich den Weg zum Fallreep, erreichen die Gangway. Christian Straff wirft einen wehmütigen Blick über die freie Schulter auf die hin und her wogende Menge auf dem Kai. Dort irgendwo ist sein Schnaps … der Teufel soll ihn holen.
    Auch auf dem Schiff kann sich Christian Straff nur langsam vorwärtskämpfen. Die grauen Menschen sind aufeinandergestapelt wie auf der Bekleidungskammer graue Socken.
    Endlich erreicht der Funkoffizier, vorsichtig den reglosen Jungen tragend, sein Deck, kämpft sich mühsam weiter. Er ist an die Fünfunddreißig, groß, kräftig, gut genährt. Zum makellosen Trojer trägt er einen sauberen Wollschal, was inmitten dieser zerlumpten Flüchtlinge mit den hungrigen Augen in den mageren Gesichtern auffällt. Schon vom Aussehen her ist Christian Straff der typische Seeoffizier: knapp in der Geste, sicher im Wort, selbstbewußt in der Haltung. Ein Gentleman mit einem Schuß Windhund, ein Zyniker mit Herz.
    Bereits vor dem Krieg, in legendärer Friedenszeit, ist der junge Seeoffizier auf der ›Cap Arcona‹ als dritter Vierter mehr auf Gesellschaftswache als im Brückendienst gefahren.
    Die Reederei, unter deren rot-weißer Flagge er fuhr, verlangte von ihren Jungoffizieren nicht nur die besten seemännischen Examen, sondern auch geschliffene Manieren und ein blendendes Aussehen.
    Die ›Cap Arcona‹ war kein billiges KdF-Schiff, sondern ein Dampfer für Millionäre und solche, die dabei waren, es zu werden. Für Passagiere, die zwischen Hamburg und Rio tanzten und flirteten, Tennis spielten und sich sonstwie vergnügten, durfte es niemals Langeweile geben. Und wollte sie einmal aufkommen, setzte der Kapitän seine jungen Seeoffiziere vom Schlage eines Christian Straff als Stoßtrupp ein.
    1939 wurde Straff direkt aus seiner Luxuskabine zur Kriegsmarine eingezogen, um Minen zu räumen. Ein verteufeltes Geschäft! Zweimal versenkt, einmal in die Luft geflogen und schließlich ein Kapitänleutnant ohne Schiff- bis ihn vor ein paar Wochen sein alter Kapitän Gerdts wieder für die zweckentfremdete ›Cap Arcona‹ anforderte.
    Das früher so leuchtende Schiff ist grau gestrichen. Grau das Heck, grau der Bug, grau die Aufbauten, grau selbst die Schornsteine, von denen früher schon von weitem das weiß-rote Emblem der Reederei leuchtete. Grau ist der Platz dahinter, das Sportdeck, vor dem Krieg ein maßgetreuer Tennisplatz, auf dem sich jetzt Menschen drängen, Menschen,
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