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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Autoren: Will Berthold
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vom Leib hält und die Besatzungen der feindlichen U-Boote pennen … Wir haben eine eigene Gefahr an Bord: diese verfluchte Überbelegung. Eine Panik wie vorhin am Fallreep würde uns lahmlegen. Gegen eine Herde von 10.000 Wahnsinnigen kann sich die Besatzung von knapp 100 Mann nicht durchsetzen. Wir müssen uns etwas ausdenken. Das wäre eine Aufgabe für Sie, Straff.«
    »Wieso?«
    »Wir müssen alles tun, um unsere Passagiere bei Laune zu halten. Soweit die Schwimmwesten reichen, geben wir sie aus. Im übrigen ist die Gefahr zu bagatellisieren …«
    Christian Straff lächelt, wie ein Clown weint. Herrlich, der Alte, denkt er, früher die Rechtschaffenheit in Person, fängt er nun in seien alten Tagen an zu lügen.
    Kaum etwas erinnert noch an den früheren Kapitän Gerdts, den eleganten Mittelpunkt des Speisesaals, den Mann, der auf jeder Passage das Kapitänsdiner gab, zu dem man nur im Frack oder Smoking erscheinen durfte, nichts läßt den witzigen Plauderer erkennen, den charmanten Tänzer, an dessen Tisch zu sitzen eine Auszeichnung war, die nur ein ganz Prominenter oder eine besonders schöne Frau erfuhren …
    Welch ein Leben, damals …
    Am Abend hörte man die modernsten Jazzkapellen und in der Morgenmesse die Regensburger Domspatzen. Man traf Bischöfe, Bankiers und Boxer neben Diplomaten und Filous, Hochstapler neben gestürzten Präsidenten und ehrgeizigen Generälen. Man sah Herren über Millionen von Dollars oder Hunderttausende von Rindern neben Abenteurern und Schnorrern, die ihr letztes Geld zusammengekratzt hatten, um die Passage zu bezahlen. Man sah Schönheit und Eleganz: Filmdiven, Schönheitsköniginnen und lustige Witwen.
    »Also, Straff«, fährt der Kommandant fort, »sehen Sie zu, daß Sie die Lautsprecheranlagen klarkriegen … machen Sie Musik oder verzapfen Sie Parolen … jedenfalls ernenne ich Sie hiermit zum Unterhaltungsminister.«
    »Ach, du lieber Gott«, sagt der Funkoffizier.
    Der Erste Ingenieur grinst schadenfroh, weil Kamerad Straff jetzt auch Sorgen hat. Zum Schluß entläßt der Kommandant die beiden Offiziere mit den Worten: »Meine Herrn, das ist keine Fahrt für ein Schiff wie die ›Cap Arcona‹, und trotzdem …«, er senkt die Stimme, als fürchte er, große Worte zu sagen, »vielleicht doch ein würdiger Abschluß … Vielleicht schaffen wir es, 10.000 Flüchtlinge durchzubringen. Vielleicht …«
    Er sieht an den beiden vorbei, hinaus über die See, als suchte er eine Ferne, die es nicht mehr gibt, nicht mehr das Spiel mit dem Wind, den Flirt mit den Wellen, diesen Traum vom blauen Himmel und endloser Weite, diese Passagen im Dienst schöner Frauen, an der Reling stehend, vom Wind zerzaust, von der Sonne gebräunt, umschmeichelt von der Brise, die nach Salz schmeckt, nach Ferne, nach Leben, nach Liebe.
    »Also dann: Hals- und Beinbruch, meine Herren!« sagt Gerdts.
    Christian Straff und der Erste Ingenieur verabschieden sich mit einer knappen Verbeugung. Sie gehen auf ihre Decks zurück und stellen fest, daß der Himmel heute nicht seidig, sondern grau ist, seine Wolken sind kein weißer Fleck, sondern dreckiger Dunst. Die Luft schmeckt nicht nach Salz, sie riecht nach Angst, und die Passagiere sind keine Millionäre, sondern arme Hunde, und Funkoffizier Straff trägt keinen Messeanzug, sondern das Ölzeug. Wenn die ›Cap Arcona‹ einem anderen Schiff begegnet, wird dessen Besatzung nicht herüberwinken, sondern den Gegner versenken. Nach fünf Jahren Krieg ist das Meer nicht mehr blau, sondern rot. Gefärbt vom Blut …
    Christian Straff turnt vorsichtig um Menschen herum, steigt über Kinder, zwängt sich an Frauen vorbei, schlägt Umwege ein, möchte fluchen und wird sanft. Der Funkoffizier sucht die Radiotechniker, die ihm die Lautsprecheranlage für seine Gute-Laune-Durchsagen installieren müssen.
    Straff merkt, wie fremd ihm sein eigenes Schiff geworden ist. Aber die ›Cap Arcona‹ ist nicht mehr sein Schiff, auf das er einmal so stolz war. Es geht ihm wie einem Mann, der ein Leben lang das Bild seiner Jugendliebe mit sich herumtrug und viele Jahre später einer alten, verbrauchten Frau gegenübersteht.
    Jetzt sieht die ›Cap Arcona‹ wie ein altes, verbrauchtes Schiff aus. Der einst so bunte Dampfer ist grau gestrichen, ein riesiger, vibrierender Schatten in der Farbe des Tages, der wie das schlechte Gewissen in Zehn-Meilen-Fahrt westwärts schleicht.
    Vielleicht ist es die letzte Fahrt der ›Cap Arcona‹. Aber es ist Christian Straff,
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