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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Autoren: Will Berthold
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er die Platte auflegt, deren leisen, unzeitgemäßen Rhythmus die meisten Flüchtlinge vor Übermüdung gar nicht mehr hören, gibt Christian Straff eine Meldung durch: »Achtung! Achtung! Frau Fährbach – Jürgen, Ihr Junge, erwartet Sie wohlbehalten im Funkdeck. Bitte melden Sie sich, Frau Fährbach …«
    Immer wieder bemüht der Funkoffizier die Lautsprecher – vergeblich.
    Die Frau, der sie gilt, kann sie im Lazarettdeck nicht hören. Sie liegt zum erstenmal seit zehn Tagen tief und traumlos im Erschöpfungsschlaf …
    Unbewaffnet, ohne Geleitschutz schleicht sich der graue Koloß mit gelöschten Positionslampen, mit geschlossenen Bullaugen, mit gebündeltem Schicksal, mit der Angst und dem Hunger an Bord über die sturmbewegte Ostsee.
    Vorbei an der Untergangsstelle der ›Wilhelm Gustloff‹, 4.000 Tote; vorbei an der Versenkungsposition der ›Goya‹, 7.000 Tote. Quer durch die mörderische Wasserfront schwimmt das Schiff, in der Nähe einer Küste vorbei, deren Badeorte einmal dazu bestimmt waren, den Menschen Ferienglück zu schenken …
    Bisher hat sie Glück gehabt, die ›Cap Arcona‹ … und eine Gefahr an Bord überstanden. Dem Ersten Funkoffizier Christian Straff gelang es, den Tumult im letzten Moment zu ersticken wie die Glut einer Zigarette am Rand einer Ölpfütze.
    Die ewige Nacht unter Deck, das Blinzeln der Notbeleuchtung, das Flackern der Augen, die Enge des Raums, die Trockenheit der Luft hatten den Wahnsinn gemästet. Als ein alter Mann im Schlaf schrie, rollte der Ruf weiter wie eine Lawine, pflanzte sich von den Dritte-Klasse-Kabinen fort über die Gänge und Decks, und die von der Angst gequälten, von Geräuschen genarrten, von der Platznot gewürgten Flüchtlinge sprangen auf, wollten nach oben gehen, glaubten, daß das Schiff, von einem Torpedo getroffen, in Minuten sinken müßte, sahen sich im Wasser treiben, ohne Schwimmweste, zwischen Eisschollen, unter den anderen, die genauso verzweifelt um ihr Leben kämpften, sahen das Schiff auseinanderbersten, sahen sich in seinem Bauch eingesperrt, von Wrackteilen nach unten gedrückt, erstickend im Schiffsrumpf.
    Und sie wollten leben, davonkommen, atmen, schwimmen, wollten nach oben, stürzten sich auf die Matrosen, die ihnen den Weg versperrten, zuerst mit harten Worten, dann mit gezielten Schlägen. Immer mehr Menschen kamen, und immer schwächer wurde die Gegenwehr. Immer mehr Flüchtlinge quollen von unten nach oben, drängten weiter; ein mächtiger, tödlicher Ansturm, der die Führung des Schiffes lähmen mußte. Hunderte jetzt, Tausende vielleicht bald. Die erste Postenkette war überrannt, die rasch herbeibeorderte Verstärkung erreicht.
    Zu ihr gehörte Möhrenkopf, der Funkmaat. Er hatte seine Rolle als Kindermädchen in der Funkbude sehr gerne aufgegeben, um hier unten nach einer flotten Gelegenheit Ausschau zu halten. Und nun stand er ausgerechnet da, wo es am schlimmsten zuging. Er boxte und brüllte: »Seid ihr verrückt …? Es ist doch nichts passiert …! Bleibt, wo ihr steht!«
    Der erste Ansturm schleuderte ihn beiseite, aber Möhrenkopf tobte und schrie: »Ich schieß' euch nieder, wenn ihr nicht …« Er hatte keine Waffe, und auch das Fluchen half ihm nichts.
    Der Funkmaat hastete nach oben, um Meldung zu machen, bei Christian Straff, seinem Chef, oder bei Kapitän Gerdts. Er stürmte in die Funkbude, mit wirren Haaren und zerrissener Uniform. Jürgen, der kleine Badegast, dessen Mutter er nicht finden konnte, wich erschrocken vor ihm zurück.
    »Da unten«, keuchte Möhrenkopf, »Wahnsinn, das alles … Sie müssen, Kaleu …«
    »Sag's auf zweimal, Babysitter«, versetzte Christian Straff und grinste gemütlich.
    Aber dann verging ihm das Grinsen rasch.
    Er übersah die Situation, wußte, daß die Katastrophe drohte, falls es ihm nicht gelänge, die Panik zu bannen.
    Dann handelte der Erste Funkoffizier spontan, so pfiffig wie richtig: der Einfall des Tages, der spielend mehr erreichte als zwanzig, dreißig kräftige Matrosen, über die der Sturm der Panik hinweggefegt war.
    Ein Griff. Eine Platte. Eingeschalteter Verstärker.
    »Dreh auf, so laut du kannst«, schrie Straff die Möhre an, bevor er nach unten ging.
    Die Panik leckte wie eine Stichflamme zum Oberdeck. Die Posten, die es absperren sollten, leisteten eingekeilt höchstens noch hinhaltenden Widerstand.
    In diesem Moment wurde die Flut gestoppt. Von einem Lautsprecher.
    »Für eine Nacht voller Seligkeit …« braust der Schlager laut und
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