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Fünf alte Damen

Fünf alte Damen

Titel: Fünf alte Damen
Autoren: Hans Gruhl
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sah zum
Rektor herunter wie ein Raubvogel. «Professor— sind Sie bereit, Ihre Geschichte
zu wiederholen— ihr ins Gesicht?»
    «Ihr ins Gesicht», sagte der kleine
Mann ruhig. «Und vor jedem Gericht der Welt.»
    Daniel sah ihn an, ein paar Sekunden,
mit Augen wie Stahlklingen. Dann nickte er langsam ein paarmal und ging hinaus.
    Seine Schritte verloren sich auf der
Treppe. Kein Laut kam mehr zu uns herunter. Der Rektor saß reglos, mit dem
Blick in die tanzenden Flammen.
    Das Digitalis.
    Das war es gewesen. In der richtigen
Dosierung das beste Herzmittel, das es gab. Zuviel davon, und das Herz
erstarrte in tödlichem Krampf, wie in einer würgenden Schlinge.
    Plötzlich war ich im Zimmer der toten
Jenny. Baldrian- und Medizingeruch. Die Balkontür, die Blumenkästen. Die
düstere Blattpflanze. Und die stille Gestalt zwischen den hohen Kissen, die den
Rosenkranz zwischen den Fingern hielt. Der Nachttisch—
    Die Erinnerung an meinen Traum in jener
Nacht überfiel mich wie ein blendendes Licht aus der Finsternis. Die Flasche
mit der Digitalistinktur war leer gewesen. Vollständig leer. Gerade leer, als
das Herz Jennys nicht mehr schlug. Damals hätte es Zufall sein können. Es war
keiner.
    Der tiefe Atemzug von Agnes, als ich
sagte, Jenny wäre tot. Ihre plötzliche Hast, mich loszuwerden. Ihre Kälte
hinter der geheuchelten Trauer.
    Ich war der gleiche Narr gewesen wie
Daniel.
    Die Tür an der rechten Seite öffnete
sich ohne Geräusch. Er trat ein, als hätte ich ihn gerufen.
    «Sie antwortet nicht», sagte er. «Die
Tür ist abgeschlossen.»
    Er ging quer durch den Raum zu der
Telefonnische. Wir sahen, wie er den weißen Knopf drückte, und hörten das
Summen des Rufzeichens in der Totenstille.
    Nichts. Niemand nahm ab in dem oberen
Zimmer über uns.
    Daniel legte den Hörer hin und wandte
sich um.
    «Wir machen die Tür auf», sagte er.
«Vielleicht finde ich im Keller— »
    «Ich hab mein Montiereisen draußen»,
sagte ich. «Das von Dorotheas Tür.»
    «Hol es.»
    Im Aufstehen sah ich den Rektor an. Er
hatte sich nicht bewegt. Aber jetzt war wieder das Faunlächeln in seinem
Gesicht, als feierte er einen geheimen Triumph mit sich allein.
    Ich ging schnell über den Sandweg. Der
Wind hatte den Nachthimmel leergefegt und war dann eingeschlafen. Die Sterne
glimmten schwach, als wären sie auf der Flucht vor der Erde.
    Die Luft tat mir gut. Mein Wagen stand
unter dem fließenden Laternenlicht, wie ich ihn verlassen hatte. Ich fand das
Eisen in einer Minute und kehrte um.
    Im Salon war nichts verändert. Daniel
stand und wartete. Der Rektor hatte sich keinen Zoll bewegt.
    «Komm mit rauf», sagte Daniel.
    Ich folgte ihm über die Treppe wie über
die letzten Meter einer langen, langen Spur.
    Die Tür war aus dunklem massivem Holz.
Mit aller Macht überkam mich das Gefühl, das auftaucht, wenn man eine Situation
schon mal erlebt hat.
    Dorotheas Tür in dem stillen, heiteren
Haus.
    Als das Schloß nachgab und der
Türflügel langsam vor uns zurückwich, blieben wir stehen. Daniel atmete schwer
und fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn. Vor uns lag die Dunkelheit wie ein
grundloser Teich. Er gab mir das Eisen in die Hand. Dann trat er in das Zimmer.
Seine Hand tastete mit schleifendem Geräusch über die Tapete nach dem
Lichtschalter. Die Deckenlampe flammte auf. Meine Pupillen zogen sich
schmerzend zusammen.
    Das Bett stand genau vor uns. Es war
breit, aber zierlich. Agnes Lansome lag flach auf dem Rücken. Sie glich so
atemberaubend ihrer Schwester, daß ich wußte, was los war, bevor wir einen
Schritt getan hatten.
    Sie war tot.
    Wir traten an das Bett heran, Daniel
auf der rechten Seite, ich auf der linken. Ich fühlte nach dem Puls, vier
Finger nebeneinander. Keine Blutwelle würde jemals wieder durch diese Ader
fließen.
    Daniel stand vor dem Nachttisch. Ich sah,
wie er ein Stück Papier aufhob. Er las es. Ich sah ungeheure Verblüffung in
seinem Gesicht.
    Dann reichte er den Zettel über die
tote Agnes zu mir. Die Worte waren mit Bleistift geschrieben, mit brüchiger
Schrift, voller Hast:
    ‹Walter hat recht. Ich hasse ihn.›
    Mein Blick begegnete Daniels Augen. Wir
mußten uns sehr ähnlich sehen in diesem Augenblick.
    «Verstehst du— »
    Neben uns räusperte sich jemand.
    Daniel fuhr blitzschnell herum. Er
hatte die Pistole in der Hand, bevor er die Tür sehen konnte. Niemand war im
Zimmer. Niemand außer uns und der Toten.
    Dann zog sich mein Zwerchfell zusammen
und wurde zu einer harten Platte aus
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