Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fünf alte Damen

Fünf alte Damen

Titel: Fünf alte Damen
Autoren: Hans Gruhl
Vom Netzwerk:
die stillen Hände mit dem Rosenkranz zu
stören. Ich setzte die Membran auf die blasse Haut neben das Brustbein. Mit der
linken Hand griff ich nach dem Puls. Ich hörte nichts und fühlte nichts. Die
alte Dame hinter mir wagte nicht zu atmen, und die im Bett tat es nicht mehr.
    Während ich lauschte, sah ich über die
Nachttischplatte. Ein Taschentuch lag auf der gehäkelten Decke, daneben eine
Bibel mit Goldschnitt und Lesezeichen. Zwei Tablettenschachteln, eine mit
Knoblauchpillen «Lebenskraft» und eine mit Schlaftabletten, von denen man alle
auf einmal nehmen mußte, um gegen Morgen in unruhigen Schlummer zu versinken.
Dann war noch eine Flasche da, Digitalistinktur für das Herz, das nicht mehr
schlug. In der Mitte hingen ein paar Mimosen in einer knospenförmigen Vase, und
ein paar der gelben Kugeln waren heruntergefallen und tot.
    Alles das sah ich mit einem Blick— und
noch etwas.
    Ein Bild. Querformat in einem
verschnörkelten Silberrahmen. Fünf junge Mädchen waren darauf, aber sie hätten
keine Titelseite für eine Illustrierte von heute abgegeben. Arm in Arm, steife
Glieder und steife Gesichter, auf denen die Anstrengung der
Zwei-Minuten-Belichtung zu erkennen war. Weiße, dreiviertellange Kleider mit
breiten Schärpen und Propellerschleifen hinter den Hüften. Unten hatte der
Fotograf mit deutscher Schrift unterschrieben, Hermann Jagow,
Kunstlichtbildatelier. So sah es auch aus. Ein Jugendbildnis aus der guten
alten Zeit, höhere Töchter mit Hoffnung auf die standesgemäße Partie.
    Ich ließ das Handgelenk los, nahm die
Membran weg und die Oliven aus meinen schmerzenden Ohren. Vorsichtig hob ich
das Oberlid ihres rechten Auges an. Die Pupille war weit, die Iris grau,
verwaschen, mit einem weißlichen Altersring darum. Ich angelte nach meiner
Taschenlampe. Nichts rührte sich unter dem Lichtstrahl. Der graue Kreis blieb
starr. Ich schob das Lid zurück über den eingesunkenen Augapfel. Dann stand ich
auf.
    «Gnädige Frau», sagte ich mit trockenem.
Hals, «ich muß leider— es ist so, wie Sie sagten.»
    Die alte Dame faßte sich an ihr weißes
Lätzchen. Die Finger zitterten.
    Sie blieb aufrecht stehen, nur ihre
Lippen wurden fahler.
    «Meine arme Jenny», flüsterte sie.
    Ich stand ratlos herum. Um irgend etwas
zu tun, ergriff ich einen der unbequemen Stühle.
    «Wollen Sie sich— »
    Sie antwortete nicht. Ich stellte den
Stuhl hin und wartete. Als nichts geschah, fing ich wieder an.
    «Ich warte gern draußen, wenn Sie
allein sein möchten», sagte ich. Sie brauchen— »
    Sie bewegte sich plötzlich.
    «Nein. Bleiben Sie nur, Doktor. Ist sie
wirklich tot?»
    «Ja», sagte ich.
    Die alte Dame atmete tief ein. Ich
brachte meine Beileidsformel heraus und ein paar Trostworte, mager wie die Hand
der Toten.
    «Meine arme Jenny», flüsterte die alte
Dame.
    Plötzlich wandte sie mir ihr Gesicht
zu. «Ich will Sie nicht unnötig aufhalten, Herr Doktor. Sicher müssen Sie auch
noch etwas wissen, wegen— wegen dieses Scheines— »
    Ihre Haltung erstaunte mich. Ich hatte
eine größere Szene erwartet. Statt dessen war sie so nett, an den Totenschein
zu denken. Man lernt nie aus.
    Wir setzten uns hinaus in den
Theatersalon vor den Bechsteinflügel und neben Goethe. Die alte Dame sprach mit
klarer Stimme.
    «Sie war schon ewig lange in Behandlung
mit dem Herzen. Bei Doktor Harding— Sie wissen sicher— »
    «Ich habe die Karteikarte gesehen»,
sagte ich.
    «So.» Mir war, als hätte sie mir einen
schnellen Blick zugeworfen, aber ich war nicht sicher.
    «Ja— in der letzten Zeit ging es eigentlich
ganz gut— früher, da hat sie Spritzen gebraucht, ich weiß nicht mehr, wie
viele, ein paarmal war sie zur Kur— »
    Sie verstummte. In irgendeinem
Stockwerk spielte ein Radio.
    Dort lebten sie noch.
    Ich fragte: «Was hat sie eingenommen in
der letzten Zeit? Nur das Digitalis?»
    Sie nickte. «Nur das. Zweimal acht
Tropfen am Tag, wie Doktor Harding es gesagt hat. Und dann ihre
Schlaftabletten. Aber nur manchmal. Oft schlief sie auch so.»
    «Hm», machte ich. «Wie ging es ihr
gestern?»
    Ihre zerbrechlichen Schultern hoben
sich. «Eigentlich gut. Sie war auf, hat auch gegessen— »
    «Manchmal geht es leider furchtbar
schnell», sagte ich. «War sie ganz allein hier?»
    Ich wußte, daß die Schwestern nicht
zusammen gewohnt hatten. Schwestern ziehen oft zusammen, wenn ihre Männer tot
sind, wegen der Einsamkeit, oder noch häufiger, um Geld zu sparen, auch wenn
genug davon da ist. Ich kannte solche,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher