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Fünf alte Damen

Fünf alte Damen

Titel: Fünf alte Damen
Autoren: Hans Gruhl
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mir nicht», sagte er ernst.
«Ich weiß noch nicht, ob ich recht gehandelt habe. Aber vielleicht ist es das
beste so. Sie hat ihren Frieden. Wir sind nicht ihre Richter.»
    Er ließ das Bett los, trat einen
Schritt zurück.
    «Darf ich gehen, Herr Kommissar?»
    Daniel nickte stumm. Wir folgten dem
alten Mann bis hinunter zur Vorhalle. Ich half ihm in den Mantel.
    «Gute Nacht, meine Herren», sagte er.
«Gute Nacht. Bald wird es wieder hell.»
    Vor der Tür wandte er sich um. Er
schwenkte seinen Hut im Halbkreis gegen uns. Sein Haar leuchtete fahl. Dann
verschwand er im Dunkel, wie ein schweifender Geisterfürst, den die Nacht
freigelassen hatte für sein Rachewerk und den sie nun wieder verschluckte.
    Nebeneinander gingen wir die Stufen
hinauf. Im Kamin glühten noch einige Scheite dunkelrot. Daniel machte Licht. Er
sah sehr müde aus.
    «Hut ab vor einem alten Rektor», sagte
er. «Trinkst du noch einen mit?»
    «Gleich», sagte ich. Ich ging zum Telefon
und hob ab.
    «Mechthild?» fragte Daniel hinter mir.
    «Hm.»
    «Willst du ihr erzählen, wie ihre Tante
gestorben ist?»
    «Nein.»
    Ich wählte. 89 69 72. Sie war sofort
da.
    «Ich bin es», sagte ich. «Alles in
Ordnung, Mechthild. Der Fall ist erledigt.»
    «Erledigt?» fragte sie verwirrt. «Habt
ihr denn den— »
    «Es gibt keinen Mörder mehr. Morgen
erzähle ich alles.»
    Sie schwieg. Ihr Atem streichelte mein
Ohr. Ich schluckte.
    «Es kommt nun doch so, daß Sie allerhand
erben», fuhr ich fort. «Sie brauchen nicht mehr zu arbeiten. Ich such mir eine
andere.»
    Keine Antwort.
    «Wenn du willst, kannst du bei mir
bleiben», sagte ich mit heißem Hals. «Ohne Gehalt natürlich. Du hast jetzt
genug Geld.»
    «Geizkragen», sagte sie zärtlich. «Ich
bleibe. Ohne Gehalt.»
    Ihre Worte klangen wie Musik.
    Als ich mich umwandte, sah ich Daniels
Grinsen. Er hielt mir ein Glas hin. Die Flasche war leer.
    «Hab ich dir nicht gesagt, daß du
heiratest, wenn die letzte alte Dame tot ist?»
    «Jawohl, Herr Trauzeuge. Komm morgen
abend. Sie wird auch da sein.»
    Wir tranken aus.
    «Kann ich auch abhauen, Dan?»
    «Kannst du. Den Rest mach ich.»
    Ich blieb stehen und schüttelte den
Kopf.
    «Selbstmord. Und ich halte ihr noch ‘n
schönen Vortrag über Digitalis. Und bringe ihr was mit, damit sie genug da
hat.»
    «Mach dir keine Gedanken. Der Alte hat
recht. Es ist das beste. Für sie und für uns.»
    «Das Horoskop», sagte ich. «‹Ihr
Eingreifen löst manches Problem! Alles gelingt, nur Herzenssachen nicht.
Ehewünsche müssen Sie zurückstellen.›»
    «Die Sterne können nichts dafür»,
erwiderte Daniel.
    Als ich nach meiner Mappe greifen
wollte, kam mir ein Gedanke.
    «Dan— hast du was dagegen, wenn ich mir
das Bild mitnehme? Das vom Nachttisch. Zur Erinnerung an— an alles.»
    «Nimm es mit», sagte er.
    Ich ging noch einmal hinauf. Agnes lag
in unendlicher Ruhe. Ich nahm behutsam das Bild aus dem Rahmen. Hinter vier
Namen auf der Rückseite war ein Kreuz. Nichts hatte sie vergessen. Ich zog
meinen Federhalter heraus und malte das letzte Kreuz zwischen die anderen.
    Dann sah ich sie noch einmal an. So war
sie mir entgegengekommen, damals in Jennys Wohnung.
    Das Haar weiß und glänzend und sauber
hochgesteckt, wie eine gepflegte Perücke. Eine Haut wie Marzipan, kaum ein
Fältchen darin. Ein mildes, wohlwollendes Gesicht voller Hoheit. Ein Gesicht,
in dessen Gegenwart man sich schämen mußte, einen bösen Gedanken zu denken, mit
einer Stirn, hinter der auch niemals ein böser Gedanke gedacht worden war. Eine
Frau, die man nur zu sehen brauchte, um sie sich als Großmutter zu wünschen.
Eine Frau, die es gar nicht mehr gab in unserer Zeit.
    Wirklich die reizendste alte Dame, die
ich jemals gesehen hatte.

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