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Fünf alte Damen

Fünf alte Damen

Titel: Fünf alte Damen
Autoren: Hans Gruhl
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sagte Daniel. «Hoffen wir
das Beste. Aber eine Weile wird’s wohl noch dauern.»
    Der Rektor wandte den Kopf zu ihm. Eine
Veränderung war vorgegangen in seinen Zügen. Das Wohlwollen war fort. Die Augen
glänzten kalt und silbern, und der flackernde Schein im Kamin zauberte seltsame
böse Schatten in das Gnomengesicht.
    «Gestatten Sie, daß ich da anderer
Ansicht bin», sagte er mit einer neuen, ungewohnten Stimme. «Ich glaube nicht,
daß es noch lange dauert. Wir werden die Lösung heute finden— in diesem Haus
und in dieser Nacht.»
    Sein Kopf blieb im Kreuz unserer Augen,
viele Sekunden. Dann wollte Daniel lächeln, aber es gelang nicht. Er räusperte
sich mit trockenem Hals.
    «Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr
Professor. Heute nacht?»
    Der alte Mann nickte. Ich beugte mich
über den Tisch.
    «Sie meinen— der Mörder kommt hierher—
heute noch, vor der Abreise?»
    Langsam drehte der Rektor sein Gesicht.
Seine Haare flatterten leise, als er den Kopf schüttelte.
    «Er kommt nicht mehr.» Seine Worte
zerschnitten die Stille. «Er ist schon hier. Hier im Haus.»
    Ein paar kalte Finger strichen ganz
leicht an meiner Wirbelsäule herunter, und alle bösen Geister standen wieder
auf in meinem Bewußtsein.
    Daniel? Der Rektor? Wer noch? Ich?
    Auf einmal war es nicht mehr gemütlich im
Zimmer. Die Flammen loderten drohender, und die finsteren Wände waren näher
gerückt und ihr Geheimnis mit ihnen.
    In meinem Mund schmeckte es nach
Whisky. Ich hatte das Glas erfaßt und einen Schluck genommen. Daniel hatte sich
nicht bewegt. Sein Gesicht war hart und kantig geworden, als hätte eisiger Wind
es gestreift.
    «Ich weiß nicht, was Sie sagen wollen,
Herr Professor», sagte er mit trägen Lippen. «Das müssen Sie schon genauer
erklären.»
    «Das werde ich, mein Freund»,
antwortete der Rektor. Er saß jetzt ganz aufrecht. Seine Stimme war klar, jedes
Wort war eindeutig, von weit hergeholt wie die Geschichte, die er vor uns
ausbreitete.
    «1907», begann er, «da war ich
fünfundzwanzig Jahre alt. Ihnen wird diese Jahreszahl nichts mehr bedeuten. Es
war das Jahr, in dem sich Kaiser Wilhelm mit dem Zaren in Swinemünde getroffen
hatte. Der Fall des Rechtsanwalts Hau bewegte noch die Gemüter. Für mich aber
war es ein wichtiges Jahr. Ich hatte mein Studium beendet und mein Staatsexamen
bestanden. Noch als Doktorand trat ich meine erste Stellung als
Studienreferendar an.»
    Er blickte durch die Flammen in die
dunkle Höhlung des Kamins, als sähe er sich dort selbst, jung und voller
Hoffnungen.
    «Ich kam an das Augusta-Lyzeum. Ich
sollte einer der unteren Klassen zugeteilt werden, aber die Krankheit eines
Kollegen brachte es mit sich, daß ich in die Oberprima geriet, mit Deutsch als
Unterrichtsfach. Es war schwierig, in meinem Alter als Lehrer mit
neunzehnjährigen Mädchen umzugehen, und es war noch schwieriger, weil sich meine
eigene Schwester in dieser Klasse befand. Aber wie gesagt, es war ein
Ausnahmezustand und nur vorübergehend.
    Ich lernte in dieser Klasse drei
Freundinnen meiner Schwester kennen. Auch Sie haben sie kennengelernt, Doktor
Klein— zweiundfünfzig Jahre später.
    Ich war nun einmal dorthin geraten und
wollte meine Sache so gut wie möglich machen. Ich wollte gerecht sein und
unparteiisch, meiner Schwester wegen, und ich wollte soviel wie möglich an
Wissen vermitteln, denn die Mädchen standen vor dem Abitur. So nahm ich mich
nach Überwindung der ersten Hemmungen dieser Klasse besonders an. Die
Freundinnen meiner Schwester kamen zudem mehrfach in unser Haus, so daß ich mit
ihnen noch engeren Kontakt bekam. Ich lernte noch eine vierte kennen, die
früher auf dem Lyzeum gewesen war und mit den anderen in Verbindung stand— Sie
wissen, wer es war.»
    «Dorothea Lindemann», antwortete ich.
    «So ist es. Bald kannte ich jede
einzelne sehr genau, ihre Fähigkeiten, ihre Schwächen und ihren Charakter,
soweit man ihn zu erkennen vermag.
    Eins von den vier Mädchen war
Klassenerste. Aber was sie an Begabung voraushatte, ließ sie an Wärme des
Herzens, an Güte, Takt und Hilfsbereitschaft vermissen. Sie war habgierig,
neidisch, egoistisch. Mit der Zeit hörte ich das Urteil ihrer früheren Lehrer
und sah ihre Beurteilungen. Sie war immer so gewesen. Schlecht von Grund auf.»
    Er wandte den Kopf ruckartig hin und
her, streifte jeden von uns mit einem bohrenden Blick.
    «Sie ist immer so geblieben.
Zweiundfünfzig Jahre lang, bis heute. Ich habe keins der Mädchen aus den Augen
verloren, denn sie
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