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Und jeder tötet, was er liebt

Und jeder tötet, was er liebt

Titel: Und jeder tötet, was er liebt
Autoren: C Westendorf
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    Esther Lüdersen lenkte ihren Wagen durch die Nacht. Es war eine dieser Sommernächte, die einen Zauber in sich bergen. Ein sanftes Schimmern, vielfarben changierend, geheimnisvoll, so wie das Innere einer geöffneten Muschel im Fluss. Unscheinbar lag sie in der Hand, sobald sie herausgefischt worden war. Doch wenn man am Ufer stand und beobachtete, wie ihr Perlmutt, durch das Sonnenlicht reflektiert, auf dem Sandboden des Wassers aufblitzte, war sie ein wunderbarer Schatz.
    Es war eine Nacht, in der man einander lieben sollte. Leidenschaftlich, ohne Sehnsucht je zu stillen. Wo einem Vieles in den Sinn kam – wenn es sich nur warm anfühlte und aufregend. Esther hingegen spürte nichts als ihre verkrampften Halswirbel. Ein unangenehmes Kribbeln. Sie nahm die linke Hand vom Steuer und massierte ihren schmerzenden Nacken. Dabei ließ sie den vergangenen Tag, den Besuch bei ihrem Vater, noch einmal an sich vorbeiziehen.
    Woche für Woche das gleiche Ritual, welchen Sinn sollte das haben? Wilfried hatte ihr auch heute nichts gesagt. Kein Wort über das, was zwischen ihnen stand. Stattdessen hatte er über seine Mitbewohner gelästert und über das Personal des Altersheims. Es war wie immer gewesen. Nur sie konnte etwas daran ändern. Wenn sie ihn mit ihren Fragen in die Enge treiben würde, ihn provozierte, damit er endlich den Mund aufmachte. Aber Esther war nicht in der Lage dazu. Wilfried brachte es fertig, sie zum Schweigen zu bringen, noch bevor das erste Wort fiel. Sie war bald sechzig Jahre alt, höchste Zeit loszulassen und die Wahrheit selbst zu suchen. Der Anfang dazu war gemacht. Die Haut auf ihrer Nasenspitze spannte sich, heute hatte die Sonne kraftvoll geschienen. Schön wäre es, jetzt in diesem Dorf zu sein in der Toskana. Den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als in den Himmel zu schauen, sich vorzustellen, wie wunderbar die Crostinis am Abend schmecken würden. Das Aroma von Trüffeln, Tomaten oder Steinpilzen; Vorfreude schon auf der Zunge. Dazu dieser tiefrote, erdige Wein, gewonnen aus den Trauben des Hanges, der zu ihren Füßen lag. Oder ganz woanders sein. Überall sein, nur nicht auf dem Rückweg aus diesem kleinen Kaff nördlich von Hamburg. Ja, es war an der Zeit, wieder auf Reisen zu gehen. Möglicherweise ließ sich Alfons überreden; hätte er Lust, sie zu begleiten, so wie früher. Esther lächelte. Damals hatten sie gewusst, warum sie zusammenlebten. Vielleicht war es noch nicht zu spät. Aussichtslos dagegen die Besuche bei Wilfried; Esther würde ihren Vater nicht mehr ändern. Es würde immer sein wie heute, selbst wenn sie von nun an jeden Tag mit ihm verbringen würde. Vielleicht erwarte ich zu viel, dachte sie müde. Schließlich konnte ihr Wilfried die Suche nach der Wahrheit nicht abnehmen. Niemand konnte das tun.
    Esther Lüdersen starrte auf die Straße, die Fahrt über Land war wohl doch keine so gute Idee gewesen. Hätte sie sich für den Weg über die Schnellstraße entschieden, läge sie bestimmt schon im Bett, der Kater zusammengerollt schlafend am Fußende. Fast sehnte sie sich nach Alfons sägendem Schnarchen aus dem Nebenzimmer.
    Müdigkeit, keine Fixpunkte fürs Auge, Esther trommelte mit ihren Fingerspitzen gegen das Lenkrad, um die einschläfernde Gleichförmigkeit des Motorengeräusches zu übertönen. Sie fuhr auf einer ebenen, wie mit dem Lineal gezogenen Allee, als sie im Rückspiegel plötzlich zwei Scheinwerfer bemerkte, die sich ihr schnell näherten. Esther starrte durch den Spiegel nach hinten.
    Der Wagen fuhr jetzt dicht hinter ihr, dann setzte er unvermittelt zum Überholen an. Ein röhrender Auspuff, der sie an Formel-1-Rennen denken ließ. Wahrscheinlich waren es junge Leute, die sich einen Spaß daraus machten, die Grenzen des Motors auszutesten und ihr ganz nebenbei einen Schrecken einzujagen. Esther hielt das Steuer mit beiden Händen fest. Neben sich konnte sie gerade noch die Umrisse des Beifahrers sehen, genauer, seinen mit einer Baseballkappe beschirmten Kopf. Wissen vor Kraft nicht wohin, die kleinen Machos, dachte sie, als der andere Wagen plötzlich viel zu früh auf ihre Fahrspur driftete und sie dabei rammte. Die versuchten tatsächlich, sie von der Straße zu drängen.
    „Idioten!“
    Esther mühte sich, gegenzuhalten, aber es war schon zu spät. Der Wagen schlingerte, kam von der Fahrbahn ab, Sand regnete auf die Frontscheibe. Als der Peugeot endlich stand, hing er mit seiner rechten Seite schief in einem Graben. Esther gab Gas, es
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