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Und jeder tötet, was er liebt

Und jeder tötet, was er liebt

Titel: Und jeder tötet, was er liebt
Autoren: C Westendorf
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Johanna.
    Ich verfluche den Tag, an dem sie deine Briefe an Gustav gefunden hat. Ich hätte daran denken sollen, die Schatulle an mich zu nehmen, als es noch nicht zu spät war. Wann genau das gewesen ist, kann ich nur vermuten. Sie begann zu trinken, zog sich zurück. Aber Esther ist eine Kämpfernatur gewesen, und sie hat Mut gehabt, vielleicht war sie darin Gustav ähnlich. In deinem Wesen lag das ganz sicher nicht. Irgendwie hat sie sich herausgewunden aus alldem, und dann lernte sie Alfons kennen. Weißt du, wahrscheinlich wärest du in diesem einen Punkt auch meiner Meinung gewesen. Alfons ist ein niveauloser Dummkopf. Man wird ihm seine Ärmelschoner sogar noch dann ansehen, wenn er seinen letzten Atemzug tut. Dass ausgerechnet er mir meine Tochter wegnehmen konnte, werde ich nie verstehen.
    Doch das ist der Lauf der Dinge. Du kannst deinem Kind nicht verbieten, erwachsen zu werden. Ich habe versucht, mich damit abzufinden, mehr noch, ich überschrieb Esther die Firma und machte Alfons zum Geschäftsführer. Wahrscheinlich hat er mehr genützt, als er schaden konnte, aber das ist unwichtig. Ich habe mich auf Enkelkinder gefreut, leider vergeblich. Alfons ist dazu wohl nicht in der Lage gewesen, oder er hat keine Kinder gewollt, der Kretin. Stattdessen fing er Geschichten mit anderen Frauen an. Auch wenn es grausam gewesen sein mag, Johanna, ich musste ihm einfach ihren Finger schicken lassen. Er sollte sich endlich auch einmal um Esther sorgen, so wie ich es all die Jahre getan habe.
    Die Zeit ging ins Land, und alles war eigentlich ganz in Ordnung, bis Esther auf einmal anfing, von Gustav zu sprechen. Sie hatte seine Adresse in den Staaten ausfindig gemacht, ja sogar schon mit ihm telefoniert. Nun war sie mit großem Elan dabei, eine Reise zu Gustav zu organisieren. Damit habe ich mich nicht abfinden können, Johanna. Ich und niemand sonst bin doch ihr Vater! Und Gustav ist zu mehr in der Lage gewesen als zu nur einer Teufelei. Ich wusste, er würde versuchen, mir meine Liebe zum zweiten Mal zu nehmen. Das durfte ich nicht zulassen. Wenn ich sie nicht behalten konnte, sollte er sie auch nicht bekommen. Lieber bin ich ganz allein, als noch einmal zuzusehen, wie er mir wegnimmt, was mir das Liebste ist.
    Ich habe Esther immer nur das Beste gewünscht. Leider hat sie nichts davon haben wollen, sie wäre doch nur aus Mitleid zu mir zurückgekommen. Auch sie ist meiner nicht würdig gewesen. Manchmal ersehne ich mir nichts mehr als eine wirkliche Chance, euch zu beweisen, wie sehr ich euch geliebt habe; aber ich weiß, dass das unmöglich ist.
    Für mich geht es schon lange nicht mehr ums Leben. Mir bleibt nur noch wenig Zeit, und sterben kann ich auch allein.
    Wilfried
    Anna Greve gab Weber das Notizbuch zurück und zog sich ihre Jacke an.
    „Ich bin gleich wieder da.“
    Sie war gerade zur Mitwisserin einer unglücklichen Liebe geworden. Einer Liebe, die sich vor mehr als einem halben Jahrhundert zugetragen hatte. Fast konnte sie im Nachhinein sogar so etwas wie Mitleid für Wilfried Hinrichs empfinden. Er hatte immer auf verlorenem Posten gestanden, denn zur Liebe konnte man niemanden zwingen.
    Die Geschichte war zu Ende, Wilfried Hinrichs würde keine zweite Chance mehr bekommen. Anna ging wie im Traum die Stufen hinab. Als sie endlich aus dem Polizeigebäude heraus war, fühlte sie sich besser, und ihre Gedanken begannen zu fließen. Hier waren zwei Menschen aneinandergekettet gewesen, die absolut nicht zusammengepasst hatten. Johanna hatte ihr Herz unwiederbringlich an Gustav verloren. Wilfried liebte Johanna, doch er war viel zu spät in ihr Leben gekommen. Wilfried war chancenlos gewesen, er hatte sie nie erreichen können.
    Wie verhielt es sich eigentlich bei ihr selbst und Tom? Waren ihre Gefühle füreinander wirklich gestorben, oder hatten sie beide nur nicht vermocht, mit den vielen kleinen Schwierigkeiten ihres Alltags zurechtzukommen? Und warum hatte sie sich ausgerechnet in Jan verliebt? Weil er genauso war wie Tom früher einmal? Wenn das stimmte, hatte sie sich in nichts anderes als in ein Bild verliebt.
    Wilfried Hinrichs hatte in seinem Brief an Johanna behauptet, er habe sie geliebt. Aber was war das überhaupt für eine Liebe gewesen, die sich dermaßen besitzergreifend und zerstörerisch zeigte?
    Anna kam ein Satz des Schriftstellers François Villon in den Kopf, der auf die Geschehnisse im Hause Hinrichs zu passen schien wie kein zweiter:
    – Denn was ich liebte, hab ich umgebracht.
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