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Frostkuss

Frostkuss

Titel: Frostkuss
Autoren: Jennifer Estep
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andere Leute wohl ähnliche Magie besaßen.
    Bis zu dem Tag, an dem ich nach dem Sportunterricht Paige Forrests Haarbürste angefasst hatte.
    Wir standen nach einem Basketballspiel in der Umkleide und zogen uns um. Ich hasste Basketball, weil ich total unbegabt war. Wirklich, ich war schrecklich. So schlecht, dass ich es schaffte, mir selbst den Ball an den Kopf zu knallen, wenn ich versuchte, auf den Korb zu werfen.
    Nach dem Unterricht war mir heiß, ich war verschwitzt, und ich wollte mir die Haare zu einem Pferdeschwanz binden. Paiges Bürste lag auf der Bank zwischen uns. Paige war keine meiner engeren Freundinnen, aber wir gehörten zur selben, halb beliebten Gruppe relativ kluger Mädchen. Manchmal unternahmen wir etwas zusammen, wenn die Clique sich traf, also hatte ich sie gefragt, ob ich ihre Bürste benutzen durfte.
    Paige starrte mich eine Sekunde lang an, und in ihren Augen stand ein seltsamer Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. »Sicher.«
    Ich hob die Bürste hoch, ohne ernsthaft damit zu rechnen, etwas zu spüren. Trotz meiner Psychometrie empfing ich gewöhnlich kaum Schwingungen von normalen Alltagsgegenständen wie Stiften, Computern, Tellern oder Telefonen – Dinge an öffentlichen Orten, die von vielen Leuten benutzt wurden oder die einfache, klar definierte Aufgaben erfüllten. Richtige Knüller, tiefe, lebhafte, hochauflösende Visionen blitzten gewöhnlich nur auf, wenn ich Sachen berührte, zu denen Leute einen persönlichen Bezug hatten – wie ein besonders geliebtes Foto oder ein Schmuckstück, mit dem jemand besondere Erinnerungen verband.
    Aber sobald sich meine Hand um die Bürste schloss, hatte ich ein Bild von Paige im Kopf, die mit einem älteren Mann auf ihrem Bett saß. Er bürstete ihr genau einhundert Mal ihr langes, schwarzes Haar, wie man es angeblich immer machen soll. Dann, als er fertig war, öffnete der Mann Paiges Bademantel, drängte sie dazu, sich auf den Rücken zu legen, und begann, sie zu berühren, bevor er seine Hose öffnete.
    In diesem Moment hatte ich angefangen zu schreien, und ich hörte nicht mehr auf.
    Nach ungefähr fünf Minuten fiel ich in Ohnmacht. Meine Freundin Bethany erzählte mir später, dass ich trotzdem weitergeschrien hatte, selbst als der Notarzt kam, um mich ins Krankenhaus zu bringen. Alle dachten, ich hätte einen epileptischen Anfall oder etwas in der Art.
    Doch ich glaube, Paige wusste es. Sie wusste von meiner Gypsygabe und meinen Fähigkeiten. Zwei Wochen zuvor hatte sie mich gebeten, ihr verloren gegangenes Handy zu finden. Ich war durch Paiges Zimmer gewandert und hatte ihren Schreibtisch, ihren Nachttisch, ihre Tasche und ihre Bücherregale berührt. Schließlich war ein Bild ihrer kleinen Schwester vor meinem inneren Auge aufgeblitzt, die das Telefon klaute, um Paiges SMS zu lesen. Manchmal frage ich mich, ob Paige ihre Bürste auf die Bank gelegt hatte, damit ich sie aufhob. Einfach, damit jemand davon erfuhr , damit jemand mitfühlte , was genau sie durchmachen musste.
    Später an diesem Tag war ich im Krankenhaus wieder aufgewacht. Meine Mom, Grace, war da, und ich erzählte ihr, was ich gesehen hatte. Das sollte man tun, wenn einer Freundin etwas Schreckliches zustößt. Ich tat es außerdem, weil meine Mom eine Ermittlungsbeamtin bei der Polizei war, die ihr Leben damit verbracht hatte, anderen Leuten zu helfen. Ich wollte einmal genau so werden wie sie.
    An diesem Abend verhaftete meine Mom Paiges Stiefvater wegen sexuellen Missbrauchs. Meine Mom rief mich vom Polizeirevier aus an und erklärte mir, dass Paige jetzt in Sicherheit sei. Sie versprach mir, in einer Stunde zu Hause zu sein. Sie wollte nur noch die Berichte fertig machen.
    Sie kam nie zu Hause an.
    Das Auto meiner Mom wurde an diesem Abend, nachdem sie das Polizeirevier verlassen hatte, von einem betrunkenen Fahrer gerammt. Grandma Frost erklärte mir, sie sei sofort tot gewesen. Sie habe nie auch nur gesehen, wie das andere Auto auf sie zuraste, und auch beim Aufprall keinen Schmerz mehr gespürt. Ich hoffte inständig, dass das der Wahrheit entsprach, weil meine Mom in dem Unfall so zerquetscht worden war, dass bei der Beerdigung der Sarg geschlossen blieb. Zumindest, soweit ich mich erinnern konnte.
    Danach war ich nicht mehr an meine alte Schule zurückgekehrt. Meine Freunde waren supernett gewesen, besonders Bethany, aber ich wollte niemanden sehen. Ich hatte nichts anderes mehr getan, als auf meinem Bett zu liegen und zu weinen.
    Aber eines Tages, drei
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