Frostblüte (German Edition)
und innerhalb kürzester Zeit legten die Diener ihre Waffen nieder und ergaben sich.
Fast alle Gourdin waren tot. Die wenigen, die überlebt hatten, saßen verschnürt wie Hühner am Markttag vor den Außenwänden ihrer Unterkunft. Die meisten Bergwächter waren damit beschäftigt, kleine Gruppen weinender sedrischer Frauen und Kinder aus dem Tempel zu führen, viele davon noch in Nachthemden.
Sechs sedrische Männer – älter und besser gekleidet als die anderen – standen vor der inneren Mauer stramm. Waren sie die Anführer der Aufständischen, die sedrischen Lords, die zu stolz gewesen waren, um ins Exil zu gehen, und die deshalb Ion hierher gefolgt waren? Auch jetzt versuchten sie Stolz zu demonstrieren, allerdings konnten die erhobenen Köpfe und spöttischen Gesichter nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie an Händen und Füßen aneinandergebunden waren. Keiner von ihnen schien jedoch verletzt zu sein. Man hatte sie kampflos gefangen genommen.
»Es hat funktioniert«, hauchte ich. »Lucas Plan ist wirklich aufgegangen. Wenn er es bloß sehen könnte. Wenn er bloß sehen könnte, was seine Leute für ihn getan haben.«
»Ich bezweifle, dass ihm das noch etwas bedeutet«, murmelte Arian.
Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen. Dann schloss ich ihn wieder. Schließlich sagte ich: »Wir können nicht weiter hinter ihm herrennen. Wir haben jetzt alles getan, was in unserer Macht stand. Wir sollten hinuntergehen und ihnen helfen.«
Als ich vorsichtig die Keule aus dem Eisenring an der Tür zog, stürzte sich kein aufgebrachter Sedrier auf uns. Im Erdgeschoss hatte sich das Gebäude bereits verändert. Statt der Stille hallten nun Stimmen und Schritte durch die Gänge, die auch nicht länger dunkel waren, sondern vom Licht der Lampen und Fackeln der Berggarde erhellt wurden, die das Gebäude nach versteckten Feinden durchkämmte.
Wir fanden Livia in einer Ecke des seltsam geschnittenen Raumes, der auf den Innenhof führte. Rani und sie breiteten ihre Utensilien auf einem der Tische aus. Jemand hatte Lichter in die Halterungen gesteckt. Mehrere Männer und Frauen, darunter zwei der von Arian und mir befreiten Rua-Gefangenen, lagen auf Decken auf dem Boden. Einige von ihnen schienen kleinere Verletzungen zu haben. Andere hatte es schlimmer erwischt. Unter ihnen war Hind, ihre Tunika war aufgeschnitten und darunter sah man den blutgetränkten Verband, der fast ihren ganzen Oberkörper bedeckte. Sie lag still da, ihre Augenlider flatterten unmerklich.
»Wie geht es ihr?«, fragte ich Livia.
Die ältere Frau machte ein besorgtes Gesicht. »Sie hat viel Blut verloren. Bevor sie ohnmächtig wurde, hat sie ständig nach Luca gefragt. Wo ist der Hauptmann?«
»Er hat es geschafft, Ion zu stellen, aber Ion konnte fliehen. Sie sind beide irgendwo hier in der Festung. Sei vorsichtig«, sagte ich.
Arian fragte: »Wie können wir dir helfen?«
Livia wirkte überrascht, dann schenkte sie Arian ein aufrichtiges, wenn auch erschöpftes Lächeln. »Da draußen sind jede Menge Verletzte, aber sie sind zu stur, um sich behandeln zu lassen. Einige werden bald umkippen. Könntest du ihnen zureden, hierherzukommen? Auf dich werden sie hören.«
Arian nickte. Wir liefen zur Tür. Was Livia nicht gesagt hatte – und was ich nur zu gut wusste –, war, dass draußen auch jede Menge Tote sein mussten. Freunde wie Feinde. Als ich hinausging und den Blick über den Innenhof wandern ließ, wappnete ich mich innerlich.
Die Luft war eisiger als zuvor, der Qualm lag wie eine Teerschicht auf der Zunge. Winzige Schneeflocken fielen auf die zitternden Gruppen der Frauen und Kinder der Abtrünnigen. Ich zählte ungefähr dreißig erwachsene Frauen, einige von ihnen Dienerinnen, einige Adlige, und ungefähr die gleiche Anzahl Kinder, ihr Alter reichte vom Säugling bis zu heranwachsenden Mädchen. Ich sah kaum Jungen. Waren sie unter den Gourdin, lebend oder tot?
»Wir können die Kinder nicht in diesen Kleidern hier draußen lassen. Es ist zu kalt«, sagte ich. »Eigentlich sollte Luca hier sein und sich darum kümmern. Können wir nicht die leere Gourdinbaracke gründlich nach Waffen durchsuchen und die Zivilisten dort unterbringen, wo sie es warm haben und aus dem Weg sind?«
Bevor Arian mir antworten konnte, gab es Unruhe und Gemurmel unter den Bergwächtern.
Der Anlass war Luca. Er stand auf einem Kistenstapel auf der Ostseite des Innenhofes. Er schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Dann sprang er vor unseren Augen von
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