Frostblüte (German Edition)
den Kisten herunter. Seine Bewegungen waren ruckartig, ungewohnt unbeholfen für Lucas Verhältnisse. Er zog sein Schwert und ging ohne einen Blick oder ein Wort des Grußes für seine Männer über den Hof. Sie machten eilig Platz.
Er erreichte die gefesselten Gourdin bei der Baracke, packte den Ersten an den Händen und marschierte in die Mitte des Hofes zurück; den Mann zwang er, auf Knien hinter ihm herzukriechen, wenn er nicht hinterhergezerrt werden wollte.
»Wo ist er?«, wollte Luca wissen. Seine tiefe, gebieterische Stimme hallte in der Stille. Selbst die Frauen und Kinder der Aufrührer hatten zu weinen aufgehört. »Wo ist Ion Constantin?«
Der Gourdin blickte Luca wortlos an. Ich konnte nicht sagen, ob sein Gesichtsausdruck mürrisch oder einfach nur verwirrt war. Luca ließ die Hände des Soldaten los und verpasste dem Mann eine Ohrfeige, die ihn umwarf. »Sprich.«
Der Mann rief etwas auf Sedrisch. Die meisten Worte erkannte ich nicht – doch mit bestimmten Ausdrücken warf man in jedem Militärlager um sich und ich hatte genug davon gelernt, um »Verräter« und »Feigling« herauszuhören.
Ich trat einen Schritt vor. Arians Hand umklammerte meinen Oberarm und hielt mich fest –
Luca stieß dem aufsässigen Gourdin das Schwert in die Brust.
Der Mann brach ohne einen Ton zusammen. Ich brauchte nicht in seine aufgerissenen leeren Augen zu sehen, um zu wissen, dass er tot war. Während ich schockiert und reglos auf die Szene starrte, wandte Luca sich ab. Sein flackernder Blick richtete sich auf einen anderen Gourdin. Dieser war wesentlich jünger, ungefähr vierzehn oder fünfzehn. Sein Gesicht war noch weich und rund und er hatte einen glatten, honigfarbenen Zopf. Obwohl er lächerlich aussah in der geschwärzten Rüstung, die ihm eindeutig eine Nummer zu groß war, trug er eine trotzige Miene zur Schau.
Luca ging auf ihn zu.
»Das wird mit jedem passieren, der mir keine Antwort gibt. Verstehst du? Ihr seid Gefangene hier. Ihr habt keine Rechte. Ihr habt niemanden, der euch verteidigen würde. Wenn du am Leben bleiben willst, antworte mir.«
Er packte den Zopf des Jungen und riss brutal daran. Als er mit dem Schwert ausholte, spritzten Blutstropfen über das Gesicht des Jungen. »Du siehst aus, als wärst du nach Ions Geschmack. Ich könnte wetten, dass er dir ein paar seiner kleinen Schlupfwinkel gezeigt hat. Oder vielleicht weiß ja auch einer deiner Freunde Bescheid? Heraus mit der Sprache!«
Eine ältere Frau unter den Zivilisten schrie auf; ihr starker Rua-Akzent war durch ihr Schluchzen noch schwerer zu verstehen. »Mein Sohn ist unschuldig. Wir wissen nicht, wo Ion ist. Bitte verschont uns!«
»Warum?« Luca schüttelte den Jungen und riss an dem langen Zopf, bis Tränen in die wütenden Augen des Jungen traten. »Warum sollte ich euch verschonen? Ihr habt zugesehen, wie eure Männer diese Festung Tag für Tag verlassen haben, um in den Bergen zu rauben und zu morden und Menschen zu verschleppen. Ihr habt jahrelang zufrieden von der Beute ihrer Verbrechen gelebt. Wie viele Jungen wie dein Sohn wurden durch die Hände deines Ehemanns gequält und getötet? Durch Ions Hände? Keiner von euch hier ist unschuldig.«
Die Frau streckte flehend die Hände vor. »Aber er ist ein Kind! Er hat nichts getan!«
Lucas Gesicht zuckte unter den Verbänden. »Irgendjemand von euch hier weiß, wo euer Anführer sein Versteck hat. Jemand weiß es und verschweigt es.« Luca verpasste dem Jungen einen groben Stoß, so dass er auf die gefesselten Hände und Knie fiel. »Vielleicht habt ihr vor ihm mehr Angst als vor mir. Aber das lässt sich ändern. Wenn ich in den nächsten zehn Sekunden keine Antwort bekomme, werde ich dem Jungen die Finger abhacken. Danach schneide ich ihm die Augen und die Zunge heraus. Und wenn ich mit ihm fertig bin, nehm ich mir den Nächsten vor, und dann noch einen, so lange, bis ich den Richtigen erwische. Denjenigen, der mir eine Antwort geben kann.«
Luca hob wieder das Schwert.
Du musst mir glauben.
Das Echo von Lucas Worten – Worte, die er vor Monaten zu mir gesagt hatte – klang mir ihm Ohr. Die Bewegung seiner Klinge schien langsamer zu werden, während ich zusah, wie eine Feder schwebte sie langsam nach oben. Der Schnee rings um mich hing reglos in der Luft.
Wenn du dich der Wut überlässt, wirst du zu dem, was du verabscheust.
Ich konnte spüren, wie die Welt den Atem anhielt. Wartete. Darauf wartete, dass sich die Geschichte veränderte. Darauf wartete,
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