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Beuterausch

Beuterausch

Titel: Beuterausch
Autoren: Lucky Jack & McKee Ketchum
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    Die Frau hat keine Vorstellung von Schönheit.
    Sie selbst ist nicht schön. Außer wenn Kraft mit Schönheit gleichzusetzen ist. Sie ist extrem kräftig und hochgewachsen, ihren langen, sehnigen Armen haftet beinah etwas Affenartiges an. Aber ihre großen grauen Augen sind leer, wenn einmal keine Wachsamkeit darin liegt. Sie ist bleich wegen des Lichtmangels, verdreckt, von Parasiten befallen, mit Insektenstichen übersät und riecht nach Blut wie ein Geier. Eine breite glatte Narbe verläuft von unterhalb ihrer rechten Brust bis hinab zur Hüfte, wo ihr vor elf Jahren ein Gewehrschuss das Fleisch weggerissen hat. Über dem linken Auge, ein Stück hinter dem Ohr, hat ein weiterer Streifschuss eine zweite Narbe hinterlassen. Weder die Augenbraue noch das Haar ist an der Stelle je wieder gewachsen.
    Sie sieht aus, als hätte sie der Blitz getroffen.
    Die Frau ist nicht schön und hat keine Vorstellung von Schönheit …
    Die Dämmerung bricht bald herein, die dunkelsten Stunden liegen hinter ihr, und sie hat den dichten Wald und die festgetretenen, steinigen Pfade verlassen, die vertrauten Wege, denen sie seit Stunden oder sogar Tagen gefolgt ist, während das Fieber in ihr brannte, von der Nacht bis zum Tag und vielleicht länger, bis sie schließlich den Strand erreichte. Im Morgenlicht ist sie hier ungeschützt, aber unterwegs blieb sie immer wieder stehen und lauschte und ging ein Stück zurück, deshalb ist sie sicher, nicht verfolgt zu werden. Sie haben aufgegeben.
    Wenn sie ihr im Dunklen überhaupt gefolgt sind. Sie ist nur in der Dunkelheit gelaufen.
    Mit ihren Verletzungen hat sie Glück – sie liegen dieses Mal dicht beieinander an der linken Seite. Der Messerstich und die Kugel. Die Sichel und der Vollmond, nur Zentimeter voneinander entfernt. Sie hat die Blutung mit Lehm gestillt und ihren Gürtel straff darüber gebunden. Es wird so gut wie keine Blutspur geben, der sie folgen können.
    Trotzdem muss sie gesund werden.
    Da ist der Schmerz. Schmerz, der von der Schulter bis zum Knie durch ihren Körper pulsiert, so wie die Wellen auf die Küste schlagen. Aber Schmerz kann man ertragen. Und es ist nichts im Vergleich zu den Schmerzen der Geburt. Schmerz bedeutet nur eines.
    Leben.
    Trotzdem muss sie gesund werden.
    Sie sucht die steinige Flutlinie ab und sieht es sofort. Die richtige Form und Farbe. Gelbgrüne, lange dicke Blätter, die aus dem Wald des Meeres gerissen und an Land gespült wurden. Nass glänzend, frisch und heilsam. Sie watet in die Wellen, und die kalte Strömung umspült ihre Waden. Das Drücken, das Ziehen. Das Glitzern der Wellen. Der durchdringende Gestank des Meeres, der andauernde Geruch des Todes. Die Geburt und das Sterben der Uferlinie.
    Sie ist nicht unempfänglich für diese Dinge.
    Das Meer war immer ihr Verbündeter.
    In einer ruhigen Nacht kann sie bei Ebbe die Welt atmen hören.
    Sie löst ihren Gürtel und lässt ihn auf die Hüfte rutschen, vorsichtig, um das Messer nicht zu verlieren.
    Sie geht in die Knie und badet sanft ihre Wunden, bis der Lehm abgespült ist und Blut über ihren Lendenschurz ins Wasser tröpfelt. Dann geht sie zurück ans Ufer. Sie bückt sich und zieht einige der Blätter aus ihrer steinernen Falle, wäscht Sand und Krebsschalen ab und drückt den Seetang auf ihre Wunden.
    Es brennt. Und auch das ist das Meer.
    Das Meer durchspült sie nun wie Gift und Heilmittel zugleich. Langsam klingt der Schmerz ab. Sie sammelt weitere Blätter, dick wie Leder, säubert sie, presst sie auf ihre Seite, zieht den Gürtel hoch und schnallt sie damit fest.
    Sie geht den Kiesstrand entlang und hält in den Gezeitentümpeln nach Nahrung und in den Klippen nach einem Unterschlupf Ausschau. Es dauert nicht lang, bis sie beides findet. Einen kleinen Vorrat an Muscheln. Zwei winzige Krebse. Und ungefähr zehn Meter über ihr und fünfzehn Meter vom Strand entfernt einen schmalen Spalt im Granit, kaum sichtbar und mit Torfmoos behangen – der Eingang zu einer Höhle. Die Krebse zermalmt sie zwischen den Zähnen und schluckt sie fast ganz. Von den Muscheln legt sie sich immer zwei gleichzeitig auf die Handfläche, schlägt sie gegen einen Stein, schnippt die Schalen weg und leckt das Fleisch auf.
    Als sie fertig ist, überquert sie den Strand und steigt einen schmalen Pfad zu der Höhle hinauf.
    Ungefähr drei Meter vor dem Eingang bleibt sie stehen. Sie schnüffelt. Zieht das Messer aus dem Gürtel. An der Klinge haften noch von der Nacht zuvor dunkelbraune Flecken
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