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Fröhliche Wiederkehr

Fröhliche Wiederkehr

Titel: Fröhliche Wiederkehr
Autoren: Horst Biernath
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schmeckenden Kreidenelken im Mund herum, und Mutter war fest davon überzeugt, daß ich schließlich nur durch Oma Gutbrods Wundernelken von der Diphteritis verschont blieb. Und was später auch an Krankheiten über die Welt hereinbrach, selbst die Grippe des Jahres 1918, die in ganz Europa Millionen Todesopfer forderte, überstanden wir alle mit zwei Gewürznelken im Mund ohne den geringsten Schaden zu nehmen. Obwohl ich den Krieg mit allem, was er an Tod und Zerstörung mitbrachte, doch erlebt und gesehen hatte, scheinen mich die Ereignisse und Erlebnisse in Lyck wenig beeindruckt zu haben. Statt Indianer und Trapper oder Räuber und Gendarm spielten wir jetzt mit der gleichen Hingabe und Begeisterung Krieg; und wie in Ostpreußen alles, sogar die Worte Ja und Nein als Jachen und Neinchen eine liebenswürdige Diminutivform bekamen, spielten wir auch nicht Krieg, sondern eben Kriegchen, und kamen uns höchstens darüber ernsthaft in die Wolle, wer die Rolle der deutschen oder der russischen Soldaten übernehmen sollte. Natürlich wollte niemand Russki sein. Auch unsere Lehrer spielten begeistert mit und vollbrachten bei Schulausflügen auf den Galtgarben mit dem Angriff auf den Bismarckturm und seine heldenhafte Verteidigung wahre strategische Meisterleistungen. Es waren fast nur alte Herren und Reserveoffiziere, die uns — durch blaue und rote Armbinden in zwei Heeresgruppen aufgeteilt — in den Kampf und zum Sieg führten, und ihnen standen für ihre militärischen und sorgfältig vorbereiteten Operationen auf jeder Seite rund vierhundert Mann zur Verfügung. Nur Herr Dr. Latte und unser neuer Klassenlehrer, Herr Dr. Hurtig, waren jüngere Herren. Sie waren vom Militärdienst zurückgestellt worden, denn der eine hatte es an der Lunge, und der andere war so kurzsichtig, daß er schon fast blind zu nennen war. Es gab auf dem Galtgarben viele Kreuzottern, und unserem Dr. Hurtig passierte das Mißgeschick, daß er in seiner Kurzsichtigkeit beim Sammeln von Tannenzapfen, die wir bei unsern Kämpfen als Munition verwendeten, statt eines Tannenzapfens eine Kreuzotter erwischte. Sie biß ihn in den rechten Daumenballen, und der Professor Kornfeld, der in den oberen Klassen Zoologie und Botanik unterrichtete und zwei Semester Medizin studiert hatte, brachte ihm mit der ausgeglühten Klinge seines Federmessers einen tiefen Kreuzschnitt im Ballen bei und saugte ihm das vergiftete Blut aus der Wunde. Und dann gaben sie ihm in einem Dorfwirtshaus eine halbe Flasche Kornschnaps zur Anregung des Herzens zu trinken, und ein Bauer brachte ihn auf einer Kartoffelfuhre in die Stadt zurück. Sein Arm war noch lange schwärzlich angeschwollen, aber er überstand den Kreuzotterbiß, und dann kam der Winter, und mit den Kriegsspielen war es ohnehin vorbei.
    Aber es blieb eine glorreiche Zeit, denn im Osten und im Westen rückten die deutschen Heere siegreich vor, und für jeden Sieg und für jede Gefangennahme von mehr als fünfzigtausend Feinden gab es einen schulfreien Tag. Selbst Vater, der sich beim Ausbruch des Krieges um die Zukunft große Sorgen gemacht hatte, begann sich zu begeistern und schnitt die Siegesnachrichten aus der Königsberger Allgemeinen Zeitung aus und sammelte die Extrablätter in einer Mappe. Und immer wieder bedauerte er sein persönliches Pech, für den siebziger Krieg zu jung gewesen und für diesen zu alt geworden zu sein. Der einzige, der an den Siegen keine rechte Freude zu haben schien, war mein Bruder Ernst. Dabei war er inzwischen schon zum Gefreiten befördert und als Artillerist in der Winterschlacht in Masuren durch einen Granatsplitter am linken Bein verwundet worden. Er hatte nach der Entlassung aus dem Lazarett vierzehn Tage Genesungsurlaub bekommen, den er zu Hause verbrachte. Die ganze Zeit über vergrub er sich in seinem Turmzimmer, trug nur seine alte grüne Cimbern-Kneipjacke und rauchte die lange Pfeife, die ihm sein Leibfuchs zum Referendarexamen dediziert hatte. Wenn ich ihn nach seinen Kriegserlebnissen ausquetschen wollte, dann konnte er richtig grob werden und schmiß mich kurzerhand aus seinem Zimmer hinaus. Bald darauf mußte er wieder zu seinem Regiment zurück an die Ostfront, aber nicht mehr nach Masuren, denn von dort waren die Russen zum zweitenmal über die Grenze zurückgeschlagen worden. Jetzt lag sein Regiment schon vor Minsk, und ich bekam von ihm eine Feldpostkarte mit der von wenig Takt und Zartgefühl zeugenden Anfrage, wie ich mit den unregelmäßigen Verben zurecht
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