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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten
Autoren: Kristin Feireiss
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Davor
    Auf der Suche nach meiner Vergangenheit, die mit unterschiedlicher Intensität mein ganzes Leben andauert, habe ich mir von den Menschen und Dingen, die ich nicht aus eigener Anschauung kenne, ein Bild gemacht. Oft sind es brüchige, flüchtige Gebilde, die sich aus Erzählungen meiner Großmutter Jula Neckermann, Berichten meiner Pflegeeltern Annemarie und Josef Neckermann, Gesprächen mit Verwandten und Freunden, Fotos, Briefen und Dokumenten zusammensetzen. Die Bilder der Vergangenheit sind durchzogen von meinen Wünschen und Hoffnungen. Erst allmählich und oft schmerzlich kommt die Wirklichkeit hinzu.
    Eigene Erinnerungen an meine frühe Kindheit kann ich nicht zu Hilfe nehmen. Ich habe sie verloren. Mit jedem Wort aber, das ich niederschreibe, hole ich meine Erinnerung zu mir zurück. Der Schleier des Vergessens, der sich über die ersten acht Jahre meines Lebens breitet, ist vom vielen Zupfen und gelegentlichen Zerren an einigen Stellen porös geworden. Manchmal glaube ich schon, einen Faden in Händen zu halten, mit dessen Hilfe ich das gesamte Gewebe auftrennen und das darunter Verborgene freilegen kann.
    Oft ist das Erinnernwollen anstrengend, fast so, wie wenn man im Morgengrauen einen guten Traum mit aller Macht festhalten und in den Tag hinüberretten möchte und hilflos dabei zusehen muss, wie er sich dennoch unaufhaltsam und unwiederbringlich entzieht, um ins Vergessen zurückzugleiten. Manchmal hat das Vordringen in die Vergangenheit, in die der Familie und die eigene, auch etwa Indiskretes, Gewaltsames. Die Erinnerungen liegen nicht schön gebündelt zum Abrufen bereit. Sie sind sperrig, wehren sich, versuchen zu entkommen.
    Dann wieder sprudeln sie ungebändigt. Einem solchen unaufhörlichen Strom, der nicht ruhig in seinem Flussbett dahinfließen will, sondern sich verzweigt und in Rinnsalen verliert, entspringen meine nicht immer zu vermeidenden Abschweifungen, welche die angestrebte Chronologie der Geschichte durchbrechen.
    Orientierung beim Erinnern wie beim Schreiben bieten mir die Wohnorte meiner Kindheit und Jugend. An ihnen ranken sich die Geschichten wie an einer Hauswand empor, um dort Halt zu finden, selbst wenn manche so üppig wuchern, dass sie, ungeachtet ihrer ursprünglichen Verankerung in Ort und Zeit, bis in die Gegenwart hineinreichen.

Erster Ort
    Das Landhaus an der Rehwiese
    Mein Geburtshaus sehe ich zum ersten Mal mit siebzehn Jahren. Es ist ganz anders, als ich es mir nach den Erzählungen meiner Großmutter Neckermann vorgestellt habe. Krieg und Nachkriegsjahre haben Wunden geschlagen, die nicht mehr zu heilen sind. Als ich das Haus an der Rehwiese, das meine Familie 1943 überstürzt verlassen hat, 1959 wieder betrete, ist von der alten Pracht nichts mehr geblieben.
    Für Dr. Hans Lang ist das Anwesen im Kirchweg 27, als er es 1936 zum ersten Mal sieht, genau das, was er sich immer vorgestellt hat: ein von englischen Vorbildern inspiriertes Landhaus in bester Lage in Berlin-Nikolassee. Die von dem Architekten Hermann Muthesius, der sich als Initiator der sogenannten Landhausbewegung in Deutschland einen Namen gemacht hat, inmitten eines Parks erbaute Villa erwirbt mein Vater von einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die offensichtlich in der Textilbranche tätig ist. Auch wenn ich über keine Kaufunterlagen verfüge, ist davon auszugehen, dass es sich in dieser Zeit um einen Zwangsverkauf gehandelt haben muss. Dafür spricht auch, dass sich meine älteste Schwester Uschi an große Mengen Stoffballen, Federboas und Kleiderpuppen erinnert, welche die jüdischen Vorbesitzer in der Eile des Auszugs auf dem Dachboden zurückgelassen haben.
    Ob mein Vater beim Kauf des Anwesens die Zwangslage der jüdischen Eigentümer finanziell ausgenutzt hat, darüber kann ich nur spekulieren. Ausschließen kann ich es nicht. Für ihn jedenfalls steht fest: Er hat einen angemessenen Rahmen für sich und seine Familie gefunden. Er steht in den Startlöchern zu seiner beruflichen Karriere, und er hat Großes im Sinn.
    Der Tag, an dem sich meine Eltern zum ersten Mal begegnen und der schicksalhaft über ihr weiteres Leben entscheiden sollte, ist auf einem kleinen gefalteten Zettel vermerkt, der an meinen Vater gerichtet ist. Ich entdecke ihn in einem Stapel alter Unterlagen, als ich die umfangreiche Korrespondenz meiner Mutter zu ordnen versuche. Darauf steht: »Mein lieber Hansi! In Erinnerung an den 2. Februar 1927, an den Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind, schicke ich
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