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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten
Autoren: Kristin Feireiss
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Distanz« sowie seine »unbeirrbare, konsequente Haltung« gerühmt. Sein Studium schließt Hans als Jahrgangsbester in Bayern mit summa cum laude ab und wird der jüngste Doktorand aller juristischen Fakultäten Deutschlands. Am 1. Januar 1930 erscheint seine Doktorarbeit unter dem Titel »Der Haushaltsplan im Deutschen Reich und im Freistaat Bayern« im Verlag Ferdinand Schöningh in Paderborn. Als Herausgeberin fungiert die Görres-Gesellschaft. In seinem Vorwort dankt mein Vater seinem Professor und Lehrer, Geheimrat Prof. Dr. Laforet, der »mich zur Bearbeitung des Themas anregte und mir immer seine Unterstützung gewährt hat, obwohl er nicht durchweg meine Rechtsanschauung teilt«.
    Nach dem Studium lässt sich mein Vater in Würzburg als Anwalt in einer Kanzleigemeinschaft mit einem Bundesbruder der Gothia nieder und wird mit sechsundzwanzig Jahren jüngstes Mitglied des Würzburger Stadtrats. Daneben arbeitet er als wissenschaftlicher Assistent für öffentliches Recht bei seinem Doktorvater Laforet und strebt eine wissenschaftliche Karriere an.
    Im August 1934 begegnen meine Eltern während eines Urlaubs in Ascona Professor Verveyen, einer ebenso faszinierenden wie schillernden Persönlichkeit. Das junge Paar freundet sich mit dem eleganten älteren Herrn an, und dieser erstellt den beiden, ausgehend von »Handlinien, Kopfform und Gesicht«, Analysen ihrer Persönlichkeit. Der Professor nennt es »Charakterbilder«. Meinem Vater bescheinigt Verveyen ein ungewöhnliches Maß an logisch-analytischer Intelligenz und ein empfindliches Ehrgefühl. Er bezeichnet ihn als »einen schönheitssinnigen Idealrealisten, dem die Meinung seiner Mitmenschen völlig gleichgültig ist, dessen Kritik aber von ätzender Schärfe sein kann«. In seinem Gutachten heißt es weiter: »Der freundliche Blick kann über den kritischen Sinn nicht täuschen.« Auch in einer graphologischen Beurteilung, deren Verfasser mir nicht bekannt ist, werden Hans eine »erhebliche, klar sondierende kritische Intelligenz, ein glattes, gewinnendes Wesen und eine zielstrebige, zähe Durchsetzungskraft, verbunden mit kühler Gewandtheit« attestiert. Nachgiebig, so ist zu lesen, sei er nur in der äußeren Form: »Er ist Diplomat, lässt sich durch Gefühlswallungen in Beruf und Geschäft nicht beeinflussen und versteht mit Vorgesetzten und höheren Instanzen ausgezeichnet umzugehen. Er kann streng und unnachsichtig sein, nicht nur aus Pflichtgefühl, sondern auch infolge eines ehrgeizigen Herrschertriebs.«
    Was mein Vater mit dem Verstand bewirkt, gelingt meiner Mutter vor allem mit Intuition. Auch von ihr gibt es ein »Charakterbild«, das der Professor mit zwischen den Zeilen zu lesender Zuneigung und Bewunderung verfasst hat. Für ihn ist meine Mutter ein »ausgesprochenes Lichtwesen«, dem er geistige und künstlerische Interessen, »innere Zielsicherheit, die Fähigkeit des Abwägens, eine ungewöhnliche Ganzheit, ein großes Maß an nachtwandlerischer Sicherheit und intuitive Menschenkenntnis« bescheinigt. Gleichzeitig sorgt er sich um diese, wie er zu sehen glaubt, »gesundheitlich zarte Frau mit dem Hang zum Okkulten und dem Sinn fürs Geheimnisvolle«, die er als einen mimosenhaft zurückgezogenen Menschen wahrnimmt: »Wenige Menschen werden in sie eindringen, von wenigen wird sie erkannt.«
    Der unbekannte Verfasser, der auch für meine Mutter ein graphologisches Gutachten erstellt hat, kommt zu ganz anderen Schlüssen. Das ihr darin bescheinigte »hochgespannte Selbstgefühl, ihr vitales Geltungsbedürfnis, ihre echte Einfühlung verhindernde Eitelkeit, ihre selbstisch wirkenden Züge« hält er für so übermächtig, dass »die Schreiberin nicht daran dächte, Wesentliches ihres Charakters zu verheimlichen«. Ob eine und, wenn ja, welche dieser sehr unterschiedlichen Beurteilungen zutrifft, vermag ich nicht zu sagen. Die Menschen, die meiner Mutter im Laufe ihres Lebens begegnen, beschreiben sie als einen offenen, tatkräftigen und unkomplizierten Menschen. Für meinen Vater dürften das seiner Frau im graphologischen Gutachten zugeschriebene Geltungsbedürfnis wie auch ihre Eitelkeit kein Problem dargestellt haben, waren ihm diese Wesenszüge doch an sich selbst vertraut.
    Wie bei der Beurteilung meines Vaters bezieht sich auch der Schlusssatz im »Charakterbild« meiner Mutter auf die Beziehung der Ehepartner zueinander. Da steht: »Die beiden Partner haben eine sehr gute Konstellation in den Gegensätzen, nicht zu verschieden, um
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